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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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stellte ich mich so hin, dass ich Lucius nicht
mehr sehen konnte, und konzentrierte mich auf Shay. »Gott liebt Sie - ob Sie
Ihre Organe spenden oder nicht, ob Sie in der Vergangenheit Fehler begangen
haben oder nicht. Und am Tag Ihrer Hinrichtung wartet er auf Sie. Christus kann
Sie retten, Shay.«
    »Christus kann Ciaire Nealon kein Herz
geben.« Plötzlich war Shays Blick durchdringend und klar. »Ich muss Gott nicht
finden. Ich will keine Belehrung in Glaubensfragen«, sagte er. »Ich will bloß
wissen, ob ich, nachdem ich getötet worden bin, ein kleines Mädchen retten
kann.«
    »Nein«, sagte ich unumwunden. »Nicht nach
einer tödlichen Injektion. Die Medikamente, die Ihnen gespritzt werden, verursachen
einen Herzstillstand, und danach ist Ihr Herz für eine Organspende wertlos.«
    Das Licht in seinen Augen wurde trüb, und
ich holte tief Luft. »Tut mir leid, Shay. Ich weiß, Sie haben gehofft, etwas
anderes zu hören, und Ihre Absichten sind gut... aber Sie müssen diese guten
Absichten umlenken, versuchen, auf andere Art mit Gott Frieden zu schließen.
Und dabei kann ich Ihnen helfen.«
    In diesem Moment kam eine junge Frau auf
den Laufgang gestürmt. Sie hatte eine schwarze Lockenmähne, und unter ihrer
Schutzweste trug sie das geschmackloseste Nadelstreifenkostüm, das ich je
gesehen habe. »Shay Bourne?«, sagte sie. »Ich weiß eine Möglichkeit, wie Sie
Ihre Organe spenden können.«
     
    MAGGIE
     
    Für Häftlinge ist es bekanntlich verdammt
schwierig, aus dem Gefängnis auszubrechen, aber für mich war es genauso
schwierig reinzukommen. Okay, ich war nicht offiziell Shay Bournes Anwältin,
aber das wusste keiner vom Gefängnispersonal. Diese Formsache konnte ich mit
Bourne persönlich klären, wenn man mich denn zu ihm vorließ.
    Ich hatte nicht damit gerechnet, wie
schwer es sein würde, mich durch die Menge wartender Menschen vor dem Gefängnis
zu arbeiten, zum Beispiel einer Mutter mit ihrem kahlköpfigen krebskranken Kind
zu erklären, warum sie mich unbedingt vorlassen musste. Letztlich schaffte ich
es nur, indem ich mich bei denen, die zum Teil schon seit Tagen warteten, als
Shay Bournes Rechtsbeistand ausgab und ihnen anbot, ihm ihre Anliegen vorzutragen
- zum Beispiel dem älteren Ehepaar, beide an Krebs erkrankt, oder dem
arbeitslosen Vater, der mir Fotos von seinen acht Kindern zeigte, die er nicht
mehr richtig versorgen konnte, oder der Tochter, die den Rollstuhl ihrer Mutter
schob und sich nichts sehnlicher wünschte, als dass sich deren Alzheimernebel
nur ein einziges Mal lichtete, damit sie sich bei ihr für eine Jahre
zurückliegende Kränkung entschuldigen konnte. Die Welt ist so voller Leid, dachte
ich, wie schaffen wir es
überhaupt, morgens aufzustehen?
    Als ich endlich am Haupttor war, erklärte
ich, dass ich zu Shay Bourne wolle, woraufhin der Gefängnisbeamte lachend erwiderte:
»Sie und der Rest der freien Welt.«
    »Ich bin seine Anwältin.«
    Er musterte mich einen Augenblick lang,
und dann sprach er in sein Funkgerät. Kurz darauf erschien sein Kollege und
eskortierte mich ins Gebäude, was manche in der Menge mit Beifall quittierten.
    Verblüfft drehte ich mich noch einmal um
und winkte zaghaft, ehe ich durchs Tor verschwand.
    Ich war noch nie in der Strafanstalt von
Concord gewesen. Es war ein großes, altes Gebäude mit einem weitläufigen Hof,
der von einem Panzerdrahtzaun umgeben war. Ich musste auf einem Klemmbrett
unterschreiben und meine Jacke ausziehen, bevor ich durch den Metalldetektor
ging.
    »Warten Sie hier«, sagte der Aufseher und
ließ mich in einem kleinen Vorraum sitzen. Ein Häftling, der dabei war, den
Boden zu wischen, mied jeden Blickkontakt mit mir. Er trug weiße Tennisschuhe,
die bei jedem Schritt ein schmatzendes Geräusch machten. Ich betrachtete seine
Hände an dem Wischmopp und fragte mich, ob sie an einem Mord, einer
Vergewaltigung oder einem Überfall beteiligt gewesen waren.
    Es hat seine Gründe, warum ich keine
Strafverteidigerin geworden bin: Die Atmosphäre hier jagte mir Angst ein. Ich
war zwar schon in Untersuchungsgefängnissen gewesen, um mit Mandanten zu
sprechen, aber dabei ging es stets um Bagatelldelikte: Krawalle bei
Wahlkundgebungen, Flaggeverbrennen, ziviler Ungehorsam. Keiner meiner Mandanten
hatte je einen Mord begangen, schon gar nicht an einem Kind und einem Polizisten.
Ich musste plötzlich daran denken, wie es wohl war, hier für immer eingesperrt
zu sein. Tag und Nacht immer nur die gleiche orangerote Gefängnismontur?

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