Das Herz ihrer Tochter
nicht,
was Shay war oder nicht war, aber ich war hundertprozentig sicher, dass ich
ihm meine Heilung zu verdanken hatte. Und er hatte irgend etwas an sich, das
einfach nicht hierherpasste, etwas, das einen stutzen ließ, wie wenn man in
einem Getto eine Orchidee wachsen sieht.
»Bleib, wo du bist«, rief ich. »Shay,
hast du gehört?«
Aber er antwortete nicht. Ich stand
schlotternd in der offenen Zellentür, verharrte auf der unsichtbaren Linie zwischen
hier und jetzt, nein und ja, falls und wenn. Dann holte ich tief Luft und trat
nach draußen.
Shay war nicht in seiner Zelle, er
näherte sich langsam der von Joey. Durch die Tür von Block I sah ich, wie die
Aufseher hastig Schutzwesten und Helme anzogen, nach ihren Schilden griffen.
Und da war noch jemand - ein Priester, den ich noch nie gesehen hatte.
Ich faßte Shays Arm, um ihn festzuhalten.
Das reichte, bloß dieses bisschen Wärme, und ich wäre fast in die Knie
gegangen. Hier im Gefängnis berührten wir niemanden, und niemand berührte uns.
Ich hätte Shay, meine Hand in seiner unschuldigen Armbeuge, für immer
festhalten können.
Aber Shay schaute sich um, und sogleich
fiel mir das ungeschriebene Gesetz unter Knackis ein: Keinem zu nah auf die
Pelle rücken. Ich ließ los. »Schon gut«, sagte Shay sanft, und er machte einen
weiteren Schritt auf Joeys Zelle zu.
Joey lag ausgestreckt auf dem Boden,
schluchzend, mit heruntergezogener Hose. Er hatte den Kopf weggedreht, und
Blut lief ihm aus der Nase. Pogie hielt einen Arm von ihm fest, Texas den
anderen; Calloway saß auf seinen noch immer zuckenden Füßen. Für die Aufseher,
die mobil machten, um die Ordnung wiederherzustellen, waren sie nicht zu
sehen. »Schon mal was von Save the Children gehört?«, sagte Crash und schwang
seine Klinge. »Ich bin hier, um eine kleine Spende zu machen.«
Genau in diesem Augenblick musste Shay
niesen.
»Gesundheit«, sagte Crash automatisch.
Shay putzte sich die Nase am Ärmel ab.
»Danke.«
Die Unterbrechung brachte Crash irgendwie
aus dem Konzept. Er blickte hinüber zu der Armee auf der anderen Seite der
Tür, wo Kommandos gerufen wurden, die wir nicht hören konnten. Er ließ die
Hand sinken und betrachtete Joey, der bibbernd auf dem Zementboden lag.
»Lasst ihn los«, sagte Crash.
»Loslassen?«, fragte Calloway verwundert.
»Du hast schon verstanden. Na los. Geht
zurück in eure Zellen.«
Pogie und Texas gehorchten, weil sie
immer taten, was Crash ihnen sagte. Calloway zögerte noch. »Wir sind hier noch
nicht fertig«, sagte er zu Joey, doch dann stand er auf und ging ebenfalls.
»Worauf wartest du noch?«, sagte Crash zu
mir, und ich eilte zurück in meine Zelle. Auf einmal war mir das Wohlergehen
anderer ziemlich egal.
Ich weiß nicht, was Crashs Sinneswandel
ausgelöst hatte - das Wissen, dass die Aufseher den Block stürmen und ihn
bestrafen würden, oder Shays gut getimtes Niesen, das ihn wieder zur Besinnung
brachte -, doch als die Aufseher Sekunden später hereinstürmten, saßen wir
alle sieben wieder in unseren Zellen, bei noch immer weit geöffneten Türen, als
wären wir Engel, als hätten wir nichts zu verbergen.
Vom Hof aus kann ich eine Blume sehen. Na
ja, eigentlich kann ich sie nicht sehen - ich muss mich erst am Sims des
einzigen Fensters ein Stück hochziehen, dann kann ich ganz kurz einen Blick auf
sie werfen, ehe ich wieder runterfalle. Es ist ein Löwenzahn, was die meisten
für Unkraut halten, aber man kann einen Salat oder eine Suppe daraus machen.
Die Wurzel läßt sich geröstet und gemahlen als Kaffeeersatz verwenden. Der
Saft hilft gegen Warzen und eignet sich als Insektenschutz. Das alles weiß ich
aus einem Artikel aus einer Gartenzeitschrift, in den ich meine Schätze
eingewickelt habe - meine Klinge, meine Q-Tips, die Augentropfenfläschchen, in
denen ich meine selbst gemachten Farben aufbewahre. Ich lese den Artikel jedes
Mal, wenn ich die Sachen raushole, um Inventur zu machen, nämlich täglich.
Versteckt hab ich sie hinter einem losen Stein in der Wand unter dem Bett, den
ich mit einer Masse aus Metamucil und Zahnpasta immer wieder neu verfuge, damit
die Aufseher bei ihren Zellendurchsuchungen nichts merken.
Früher hab ich mich nie groß dafür
interessiert, aber ich wünschte, ich hätte mir die Zeit genommen zu lernen, was
Dinge wachsen läßt. Dann wüßte ich jetzt vielleicht, wie man aus einem
Samenkorn eine Wassermelone züchtet. Dann wäre meine Zelle jetzt vielleicht
voller Kletterpflanzen.
Adam war
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