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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Caravaggio konzentriert, ohne die Madonna mit Kind wahrzunehmen, oder zu
Ostern ein gutes Lammgericht gekocht, ohne an die Passionsgeschichte zu
denken. Religion gab Menschen Hoffnung, die wußten, dass das Ende nicht gerade
toll werden würde. Deshalb fingen Häftlinge im Knast an zu beten, und deshalb
fingen Patienten an zu beten, bei denen eine unheilbare Krankheit
diagnostiziert worden war. Religion sollte eine wärmende Decke sein, die du dir
bis unters Kinn zogst, ein Versprechen, dass du nicht allein sterben würdest,
wenn es so weit war - aber sie konnte dich ebenso gut zitternd in der Kälte
allein lassen, wenn das, was du glaubtest, übermächtig wurde.
    Ich starrte ihn an. »Ich glaube nicht an
Gott. Aber ich glaube an Shay.«
    »Danke, dass Sie sich Zeit für mich
genommen haben, Lucius«, sagte der Priester leise und ging den Laufgang
hinunter.
    Er war Priester, aber er suchte seine
Wunder am falschen Ort. Zum Beispiel die Sache mit dem Kaugummi. Ich hatte die
Berichte im Fernsehen gesehen - es hieß, Shay hätte ein kleines Stück Kaugummi
irgendwie vermehrt. Aber alle die dabei waren - wie ich oder Crash oder Texas -
wußten, dass es nicht auf einmal sieben Stücke Kaugummi gewesen waren. Es war
eher so: Als das Stück unter der Tür hindurch in unseren Zellen landete, nahm
sich nicht jeder, so viel er konnte, sondern begnügte sich statt dessen mit
weniger.
    Das Kaugummi wurde wie durch ein Wunder
vervielfältigt. Weil wir - so gierig wir sonst auch waren - die Bedürfnisse der
anderen sechs wahrnahmen und ihnen in dem Augenblick genauso viel Wert
beimaßen wie unseren eigenen.
    Was, wenn Sie mich fragen, das größte
Wunder war.
     
    MICHAEL
     
    Im Vatikan ist ein ganzes Büro damit
beschäftigt, angebliche Wunder zu analysieren und zu entscheiden, ob sie als
glaubwürdig einzustufen sind. Die Mitarbeiter untersuchen Statuen und Büsten,
kratzen Bratfett aus angeblich blutenden Augenwinkeln, spüren parfümiertes Öl
an Wänden auf, die Rosenduft verströmen. Ich war längst nicht so erfahren wie
die Vatikanexperten, aber andererseits hatten sich vor dem Gefängnis in Concord
an die fünfhundert Menschen versammelt, die Shay Bourne als Erlöser
bezeichneten - und ich würde nicht zulassen, dass die Leute Jesus so einfach
wieder aufgaben.
    Zu diesem Zweck saß ich jetzt in einem
Labor am Dartmouth College und ließ mir von einem Doktoranden namens Ahmed die
Ergebnisse einer von ihm untersuchten Bodenprobe erläutern. Er hatte sie in
unmittelbarer Nähe der Rohrleitungen genommen, die Block I mit Wasser
versorgten. »Eine schlüssige Erklärung konnte die Gefängnisleitung deshalb nicht
finden, weil nur innerhalb der Rohre Proben genommen worden waren, nicht außerhalb«, sagte
Ahmed. »In dem untersuchten Wasser wurde daher etwas nachgewiesen, das wie
Alkohol aussah, aber nur in bestimmten Rohren. Und Sie erraten nie, was da in
der Nähe der Wasserrohre wächst: Roggen.«
    »Roggen?«
    »Ja«, sagte Ahmed. »Was die Konzentration
von Mutterkorn im Wasser erklärt. Mutterkorn ist eine Pilzerkrankung des Roggens.
Ich weiß nicht, was die Ursache ist - ich bin kein Botaniker -, aber ich würde
tippen, es hängt irgendwie mit dem vielen Regen in letzter Zeit zusammen, und
bei der Untersuchung wurde an einem Rohr ein haarfeiner Riss festgestellt, was
erklären würde, wie es überhaupt zu der Übertragung kommen konnte. Mutterkorn
war sozusagen das erste chemische Kampfmittel. Die Assyrer haben im siebten
Jahrhundert vor Christus damit die Wasserversorgung vergiftet.« Er lächelte.
»Ich hab Chemie und Geschichte studiert.“
    »Ist das Zeug tödlich?«
    Ahmed zuckte die Achseln. »In
regelmäßigen Dosen. Aber zunächst ist es ein Halluzinogen, das mit LSD verwandt
ist.«
    »Dann waren die Häftlinge in Block I
vielleicht gar nicht betrunken ...«, sagte ich vorsichtig.
    »Richtig«, erwiderte Ahmed. »Bloß auf
einem Trip.«
    Ich drehte das Fläschchen mit der
Bodenprobe um. »Sie glauben also, das Wasser wurde kontaminiert.«
    »Ganz genau.«
    Aber woher hätte Shay Bourne im Gefängnis
wissen sollen, dass ganz in der Nähe der Wasserleitungen, die zu Block I führten,
ein Pilz wuchs?
    Plötzlich fiel mir etwas anderes ein:
Dieselben Häftlinge von Block I hatten am nächsten Morgen Wasser aus denselben
Rohren getrunken, ohne sich anschließend anomal zu verhalten. »Und wie ist die
Kontaminierung wieder verschwunden?«
    »Tja«, sagte Ahmed, »das hab ich bis
jetzt noch nicht

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