Das Herz ihrer Tochter
einzugehen. »Woher weiß ein Fisch, wo er ist? Ich meine, auf dem
Meeresgrund bewegt sich doch ständig alles, nicht? Wenn du also zurückkommst,
und alles sieht anders aus, wie kann das dann noch der Ort sein, an dem du mal
warst?«
Die Tür zu Block I öffnete sich, und ein
Aufseher kam mit einem Metallhocker in den Händen den Laufgang herunter. »Der
ist für Sie, Father«, sagte er und stellte den Hocker vor Shays Zellentür.
»Falls es länger dauert.«
Ich erkannte in ihm den Mann, der mich
angesprochen hatte, als ich das letzte Mal hier war und mit Lucius geredet
hatte. Seine kleine Tochter war schwer krank gewesen; er war überzeugt, dass
Shay für ihre Genesung verantwortlich war. Ich dankte ihm, wartete aber, bis er
gegangen war, ehe ich wieder das Wort an Shay richtete.
»Haben Sie sich schon mal wie dieser
Fisch gefühlt?«
Shay blickte mich an, als wäre ich
derjenige, der einem Gesprächsfaden nicht folgen konnte. »Was für ein Fisch?«,
sagte er.
»Als könnten Sie den Weg zurück nach
Hause nicht finden?«
Ich wollte auf die wahre Erlösung hinaus,
aber Shay brachte uns vom Kurs ab. »Ich hatte ein paar Adressen, aber nur ein Zuhause.«
Er war von einer Pflegestelle zur
nächsten gereicht worden; das wusste ich noch von dem Prozess damals. »Wo war das?«
»Wo ich zusammen mit meiner Schwester
war. Ich hab sie nicht mehr gesehen, seit ich sechzehn war. Seit ich ins
Gefängnis gesteckt wurde.«
Ich erinnerte mich, dass er wegen
Brandstiftung zu einer Jugendstrafe verurteilt worden war, aber von einer
Schwester hörte ich zum ersten Mal.
»Wieso war sie nicht bei Ihrem Prozess
dabei?«, fragte ich und begriff zu spät, dass mir ein gravierender Fehler
unterlaufen war - das konnte ich nur wissen, wenn ich selbst dabei gewesen war.
Aber Shay fiel es nicht auf. »Ich hab ihr
gesagt, sie solle nicht kommen. Ich wollte nicht, dass sie allen erzählt, was
ich getan hab.« Er stockte. »Ich will mit ihr sprechen.«
»Mit Ihrer Schwester?«
»Nein. Sie wird nicht zuhören. Mit der
anderen. Sie wird mich hören, wenn ich tot bin. Jedes Mal, wenn ihre Tochter
spricht.« Shay blickte zu mir hoch. »Sie haben doch gesagt, Sie würden sie
fragen, ob sie das Herz will, nicht? Könnte ich sie nicht selbst fragen?«
Ich glaubte, es würde leichter, den Mount
Everest nach Ohio zu versetzen, als June Nealon zu einem Besuch von Shay im
Gefängnis zu bewegen. »Ich weiß nicht, ob das klappt...«
Andererseits, vielleicht würde Shay durch
eine Begegnung mit June den Unterschied zwischen persönlicher Vergebung und
göttlicher Vergebung erkennen. Wenn das Herz eines Mörders in die Brust eines
Kindes verpflanzt wurde, vielleicht würde dadurch deutlich werden, dass aus
Bösem Gutes erwachsen kann. Und Claires Pulsschlag würde June mehr Frieden
bescheren, als jedes Gebet es vermochte.
Vielleicht verstand Shay ja doch mehr von
Erlösung als ich.
Er stand jetzt vor der Wand seiner Zelle
und fuhr mit den Fingerspitzen über den Zement, als könnte er die Geschichte
der Männer lesen, die vor ihm hier gewohnt hatten.
»Ich will's versuchen«, sagte ich.
Ich hätte Maggie Bloom erzählen müssen,
dass ich einer der Geschworenen war, die Shay Bourne zum Tode verurteilt
hatten. Shay darüber im Unklaren zu lassen mochte ja noch angehen, aber es
seiner Anwältin vorzuenthalten, die sich schließlich für seine Sache stark
machen wollte, das war etwas ganz anderes. Andererseits war es meine Aufgabe,
dafür zu sorgen, dass Shay vor seinem Tod Frieden mit Gott schloss. Wenn ich
Maggie von meiner Vorgeschichte mit Shay erzählte, würde sie mich postwendend
in die Wüste schicken und Shay einen neuen Seelsorger verschaffen, der bei
keinem Richter Stirnrunzeln auslösen würde. Ich hatte lange und inbrünstig über
dieser Frage gebetet und beschlossen, mein Geheimnis vorläufig für mich zu
behalten. Gott wollte, dass ich Shay zur Seite stand, so redete ich mir
zumindest ein, um mir nicht eingestehen zu müssen, dass ich selbst Shay helfen
wollte, weil ich ihn damals im Stich gelassen hatte.
Die Räumlichkeiten der ACLU lagen über
einer Druckerei, und es roch entsprechend nach frischer Druckfarbe und Toner.
Der Empfangsbereich war voll mit Pflanzen in diversen Stadien des Verdorrens
und dicht an dicht stehenden Aktenschränken. Eine Mitarbeiterin tippte so
furios auf einer Tastatur herum, dass ich fast fürchtete, der Computer könnte
gleich anfangen zu qualmen. »Ja bitte?«, sagte sie zu mir, ohne den Blick
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