Das Herz ihrer Tochter
durchlas.
Shay musste gar nicht durch eine tödliche
Injektion hingerichtet werden, wenn ich die Strafvollzugsbehörde - oder ein Gericht
- davon überzeugen konnte, dass die Methode untauglich war. Wenn ich das mit
dem Recht eines jeden Häftlings auf freie Religionsausübung koppelte und ich
nachweisen konnte, dass nach Shays Glaubensverständnis eine Erlösung ohne Organspende
unmöglich war, dann musste die tödliche Injektion als untauglich
eingestuft werden. Und dann würde Shay gehängt werden.
Und - das war das eigentliche Wunder -
laut Dr. Gallagher wäre Shay Bourne dann imstande, sein Herz zu spenden.
LUCIUS
An dem Tag, als der Priester wiederkam,
war ich mit meinen Farben beschäftigt. Meine Lieblingssubstanz war Tee - mit
ihm konnte man eine Palette von fast weiß bis zu einem gelblichen Braun
erreichen. Kräftige, leuchtende Farben machte ich mit M&Ms und Smarties,
obwohl das Verfahren zeitaufwendiger war, weil man mit einem angefeuchteten
Q-Tip elend lange über die Oberfläche reiben musste. Aber Zeit hatte ich ja
reichlich.
Jedenfalls war ich emsig bei der Sache,
als Shays Priester, angetan mit Schutzweste, auf meine Zelle zumarschiert kam.
Ich kannte ihn natürlich schon von seinem ersten Besuch bei Shay, aber da hatte
ich ihn nur kurz aus einiger Entfernung gesehen. Jetzt, wo er direkt bei mir
vor der Tür stand, sah ich, dass er jünger war, als ich gedacht hatte, mit
Haaren, die ausgesprochen unpriesterlich waren, und Augen so weich wie graues
Flanell. »Shay ist beim Friseur«, sagte ich. Es war Haarschneidetag, und er war
zehn Minuten zuvor abgeholt worden.
»Ich weiß, Lucius«, sagte der Priester.
»Ich würde in der Zeit gern mit Ihnen sprechen.«
Eines können Sie mir glauben, mir stand
wahrhaftig nicht der Sinn nach einem Plausch mit einem Priester. Ich hatte
bestimmt nicht darum gebeten, und als ich das letzte Mal das Vergnügen hatte,
wollte der Geistliche mir nur einen Vortrag darüber halten, dass Schwulsein
eine freie Entscheidung sei und Gott mich liebte (und noch mehr lieben könnte,
wenn ich nicht diese ärgerliche Angewohnheit hätte, mich in andere Männer zu
verlieben). Bloß weil Shay in der festen Überzeugung zurückgekommen war, sein
neues Team - irgendeine Anwältin und dieser Priester - würde für ihn Berge
versetzen, teilte ich seine Begeisterung noch lange nicht. Trotz seinen
immerhin schon elf Jahren Knasterfahrung war Shay der naivste Häftling, der mir
je begegnet war. Erst gestern Abend zum Beispiel hatte er sich mit den
Aufsehern angelegt, weil sie ihm frische Bettwäsche gebracht hatten, die er
einfach nicht benutzen wollte. Er meinte, er könne das Bleichmittel spüren,
und bestand darauf, auf dem Zellenboden zu schlafen.
»Danke, dass Sie bereit sind, mit mir zu
sprechen, Lucius«, sagte der Priester. »Wie ich höre, geht es Ihnen deutlich
besser, das freut mich.«
Ich starrte ihn argwöhnisch an.
»Wie lange kennen Sie Shay schon?«
Ich zuckte die Achseln. »Seit er vor ein
paar Wochen in der Zelle nebenan eingezogen ist.«
»Hat er da schon davon gesprochen,
Organspender zu werden?«
»Zuerst nicht«, sagte ich. »Dann hatte er
einen Krampfanfall und kam auf die Krankenstation. Als er danach wieder da war,
hat er über nichts anderes mehr geredet, als dass er sein Herz spenden will.«
»Er hatte einen Krampfanfall?«,
wiederholte der Priester, und ich sah ihm an, dass die Information neu für ihn
war. »Hatte er danach noch welche?«
»Das können Sie doch alles Shay fragen.«
»Ich möchte hören, was Sie meinen.«
»Nein«, widersprach ich, »Sie wollen nur
von mir hören, ob er wirklich Wunder vollbringt oder nicht.« Der Priester
nickte bedächtig. »Ja, stimmt.« Einiges war schon an die Medien durchgesickert,
und ich dachte mir, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis der Rest
bekannt wurde. Ich erzählte ihm, was ich mit eigenen Augen gesehen hatte, und
als ich fertig war, blickte Father Michael ernst. »Erzählt er allen, er ist
Gott?«
»Nein«, schmunzelte ich. »Wenn das einer
tut, dann Crash.«
»Lucius«, fragte der Priester, »glauben Sie, Shay ist Gott?«
»Jetzt mal halblang, Father, ich glaube
überhaupt nicht an Gott. Ich hab ungefähr zu der Zeit damit aufgehört, als Ihre
geschätzten Kollegen mir weismachen wollten, Aids wäre die Strafe für meine
Sünden.« Ehrlich gesagt, hatte ich schon vorher zwischen säkularer und
nichtsäkularer Religion unterschieden, hatte mich bewußt auf die Schönheit
eines
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