Das Herz ihrer Tochter
Ernst, Jesus wäre froh darüber, wie sich die Welt entwickelt
hat?«
Ich dachte an Selbstmordattentäter, an
die Radikalen, die Arztpraxen stürmten, in denen Abtreibungen vorgenommen
wurden. Ich dachte an die Nachrichtenberichte über den Nahen Osten. »Ich
glaube, Gott wäre entsetzt über manche Dinge, die in seinem Namen geschehen«,
gab ich zu. »Ich glaube, seine Botschaft ist mancherorts verzerrt worden. Und
genau deshalb halte ich es für noch wichtiger, die Botschaft zu verbreiten, um
die es ihm ging.«
Shay stieß sich von der Zellentür ab.
»Gucken Sie sich einen Typen wie Calloway an -«
»He, Bourne«, rief Reece. »Hör bloß auf,
über mich zu quatschen. Untersteh dich, überhaupt meinen Namen in deinen
dreckigen Mund zu nehmen -«
»- ein Rassist, der eine Synagoge abgefackelt
hat -«
»Du bist
tot, Bourne«, sagte Reece. »T-O-T.«
»- oder den Aufseher, der einen zur
Dusche bringt und einem nicht in die Augen sehen kann, weil er weiß, wäre sein
Leben nur ein bisschen anders verlaufen, würde er jetzt vielleicht selbst die
Handschellen tragen. Oder die Politiker, die meinen, sie können jeden in den
Knast stecken, von dem sie glauben, er hat in der Gesellschaft nichts zu suchen
-«
Prompt brachen die anderen Häftlinge in
Jubel aus. Texas und Pogie nahmen ihre Essenstabletts und schlugen damit rhythmisch
gegen die Stahltüren. Über Lautsprecher brüllte die Stimme eines Aufsehers:
»Was ist denn da los?«
Shay stand jetzt auf der Bühne und
predigte zu seiner Gemeinde, losgelöst von geradlinigem Denken und allem
anderen außer seinem großen Auftritt. »Und diejenigen, die wirkliche Monster
sind, diejenigen, die sie nie wieder zu ihren Frauen und Kindern lassen wollen
- so welche wie ich -, nun, die werden sie endgültig los. Weil das leichter ist, als
einzugestehen, dass zwischen ihnen und mir kein großer Unterschied besteht.«
Beifall ertönte, Pfiffe und Jubelrufe.
Shay trat zurück und machte eine tiefe Verbeugung, wie im Theater. Dann trat er
wieder vor und gab eine Zugabe.
»Sie haben sich verrechnet. Eine kleine
Spritze reicht nicht. Spaltet das Holz, ich bin da. Hebt einen Stein auf, und
ihr werdet mich dort finden. Schaut in den Spiegel, und ihr seht mich.« Shay
blickte mich direkt an. »Wenn Sie wirklich wissen wollen, was jemanden zum
Mörder macht«, sagte er, »fragen Sie sich selbst, was Sie zum Mörder machen
würde.«
Meine Hände verkrampften sich auf der
Bibel, die ich immer dabeihatte, wenn ich Shay besuchte. Wie sich
herausstellte, wetterte Shay nicht über nichts. Er hatte den Bezug zur
Realität nicht verloren.
Ich dagegen schon eher.
Denn wie Shay angedeutet hatte, waren wir
gar nicht so verschieden, wie ich es gern gehabt hätte. Wir waren beide
Mörder.
Mit dem einzigen Unterschied, dass der
Tod, den ich verursacht hatte, erst noch kommen würde.
MAGGIE
Als ich in derselben Woche zum Lunch mit
meiner Mutter im ChutZpah eintrudelte, hatte sie keine Zeit für mich. »Maggie«,
sagte sie, als ich in der Tür ihres Büros stand. »Was machst du denn hier?«
Es war der Wochentag, die Uhrzeit, zu der
wir uns immer zum gemeinsamen Lunch trafen, obwohl ich nie richtig Lust dazu
hatte. Aber heute hatte ich mich zumindest auf eine entspannende Maniküre
gefreut. Seit Father Michael überraschend in mein Büro gekommen war und wir
über ein Treffen zwischen Shay und June Nealon gesprochen hatten, hegte ich
Zweifel an mir und meinen Absichten. Wenn ich mich dafür einsetzte, dass Shay
sein Herz spenden konnte, ging es mir dabei um seine Interessen oder um meine
eigenen? Klar, für uns Gegner der Todesstrafe käme es wie gerufen, wenn Shays
letzte Tat auf Erden eine selbstlose Organspende wäre... aber war es nicht moralisch
falsch, die Exekution eines Mannes zu beschleunigen, selbst wenn er selbst das
so wollte? Nach drei schlaflosen Nächten wollte ich nur noch die Augen
schließen, meine Hände in warmem Wasser einweichen lassen und einmal nicht an
Shay Bourne denken.
Meine Mutter trug einen cremefarbenen
Rock, der so winzig war, dass er auch einer Barbiepuppe gepaßt hätte, und das
Haar hatte sie zu einem Chignon geknotet. »Ich hab doch einen Termin mit einer
Investorin«, sagte sie. »Weißt du nicht mehr?«
Ich wusste, dass sie vage erwähnt hatte,
das ChutZpah durch einen Anbau vergrößern zu wollen, und dass irgendeine superreiche
Lady aus Woodbury, New York, mit ihr darüber reden wollte, die Finanzierung zu
übernehmen.
»Du hast mir nicht
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