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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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mal sauer auf mich.«
     
    Ich saß unter den grellen Neonlampen im
Besprechungsraum für Anwälte und Mandanten, als Shay Bourne hereingeführt
wurde. Er trat vor die Tür, schob die Hände durch die Öffnung, um sich die
Handschellen abnehmen zu lassen, und setzte sich dann an den Tisch. Seine Hände
waren klein, fiel mir auf, vielleicht sogar kleiner als meine.
    »Wie läuft's?«, fragte er.
    »Gut. Und bei Ihnen?«
    »Nein, ich meinte mit dem Antrag? Wegen
der Herzspende?«
    »Na ja, wir warten erst einmal Ihr
Gespräch mit June Nealon morgen ab.« Ich zögerte. »Shay, ich muss Sie was
fragen, als Ihre Anwältin.« Ich wartete, bis er mir in die Augen sah. »Glauben
Sie wirklich, nur indem Sie sterben, können Sie für das büßen, was Sie getan
haben?«
    »Ich will ihr bloß mein Herz spenden -«
    »Das verstehe ich. Aber um das zu tun,
haben Sie im Grunde Ihrer eigenen Hinrichtung zugestimmt.«
    Er lächelte schwach. »Und ich dachte
schon, meine Stimme zählt nicht.«
    »Ich glaube, Sie wissen, was ich meine«,
sagte ich. »Ihr Fall wird das Thema Todesstrafe ins Rampenlicht rücken, Shay -
aber Sie werden das Opferlamm sein.«
    Sein Kopf fuhr hoch. »Für wen halten Sie
mich?«
    Ich zögerte, unsicher, worauf er
hinauswollte.
    »Glauben Sie, was alle anderen glauben?«,
fragte er. »Oder was Lucius glaubt? Glauben Sie, ich kann Wunder tun?«
    »Ich glaube nichts, was ich nicht mit
eigenen Augen gesehen habe«, sagte ich mit fester Stimme.
    »Die meisten Leuten wollen einfach
glauben, was andere ihnen erzählen«, sagte Shay.
    Er hatte recht. Genau deshalb hatte ich
mich auch ins Büro meines Vaters geflüchtet: weil selbst ich als überzeugte
Atheistin den Gedanken, dass es keinen Gott gab, der unser Wohl und Heil im
Auge hatte, manchmal einfach zu beängstigend fand. Genau deshalb konnte die
Todesstrafe in einer so aufgeklärten Nation wie den USA noch immer gesetzlich
verankert sein: weil der Gedanke, welche Gerechtigkeit - oder Ungerechtigkeit -
sich durchsetzen würde, wenn wir die Todesstrafe nicht mehr hätten, einfach zu
beängstigend war.
    Wollte ich dahinterkommen, wer Shay
Bourne für mich persönlich war? Wahrscheinlich. Ich glaubte ganz sicher nicht,
dass er der Sohn Gottes war, aber wenn ihm das die Aufmerksamkeit der Medien
einbrachte, dann war es in meinen Augen einfach genial von ihm, diesen Eindruck
zu unterstützen. »Wenn Sie es schaffen, dass June Ihnen morgen bei dem Treffen
vergibt, Shay, dann müssen Sie Ihr Herz vielleicht gar nicht spenden.
Vielleicht tut es Ihnen einfach gut, Kontakt zu ihr gefunden zu haben, und dann
können wir sie überreden, sich beim Gouverneur dafür einzusetzen, dass er Ihre
Strafe in lebenslänglich umwandelt -«
    »Wenn Sie das tun«, fiel Shay mir ins Wort,
»töte ich mich selbst.«
    Mir klappte der
Unterkiefer runter. »Wieso denn das?“
    »Weil«, sagte er, »ich
hier rausmuss.«
    Zuerst dachte ich, er meinte das
Gefängnis, doch dann sah ich, dass er die Arme fest um sich geschlungen hatte,
als ob sein Körper das Gefängnis wäre, von dem er sprach. Und da musste ich
natürlich an meinen Vater und die Teschuva denken. Konnte ich ihm tatsächlich
helfen, wenn ich ihn gemäß seinen Bedingungen sterben ließ?
    »Eins nach dem anderen«, sagte ich. »Wenn
Sie es schaffen, dass June Nealon versteht, warum Sie das tun wollen, dann
setze ich mich dafür ein, dass auch ein Gericht es versteht.«
    Aber Shay war plötzlich mit seinen
Gedanken ganz woanders, wo auch immer das sein mochte. »Wir sehen uns morgen,
Shay«, sagte ich und wollte ihn mit einer Berührung an der Schulter vermitteln,
dass ich gehen wollte. Aber kaum hatte ich den Arm ausgestreckt, da lag ich
auch schon flach auf dem Boden. Shay stand über mir, genauso schockiert von dem
Schlag, den er mir versetzt hatte, wie ich.
    Ein Aufseher kam in den Raum gestürzt,
riss Shay zu Boden und drückte ihm ein Knie ins Kreuz, damit er ihm
Handschellen anlegen konnte. »Alles in Ordnung?«, rief er mir zu.
    »Mir geht's gut... ich bin bloß
ausgerutscht«, log ich. Ich spürte, wie sich auf meinem linken Wangenknochen
eine Schwellung bildete, die der Aufseher natürlich auch sehen würde. Ich
schluckte den Knoten Angst in meiner Kehle herunter. »Könnten Sie uns wohl
noch ein paar Minuten allein lassen?«
    Ich bat den Aufseher nicht, Shay die Handschellen
wieder abzunehmen, so tapfer war ich nun doch nicht. Aber ich rappelte mich
hoch und wartete, bis wir wieder allein im Raum waren. »Tut mir leid«,

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