Das Herz ihrer Tochter
Laut von sich gab, weil meine
steife Haltung sicherlich Bände sprach. An der Tür blieb Father Michael stehen.
»Vielleicht passiert es nicht, wann wir wollen oder wie wir es wollen, aber
irgendwann begleicht Gott die Rechnung«, sagte er. »Sie müssen nicht selbst
Rache üben.«
Ich starrte ihn an. »Es geht nicht um
Rache«, sagte ich. »Es geht um Gerechtigkeit.«
Als der Priester gegangen war, zitterte
ich vor Kälte. Ich zog mir einen Pullover über und dann noch einen und wickelte
mir eine Decke um, aber ein Körper, der innerlich zu Stein geworden ist, läßt
sich nun mal nicht wärmen.
Shay Bourne wollte Ciaire sein Herz
spenden, damit sie leben würde.
Was wäre ich für eine Mutter, wenn ich
das zuließe? Und was wäre ich für eine Mutter, wenn ich sein Angebot ablehnte?
Father Michael hatte gesagt, Shay Bourne
wollte die Waagschalen ausgleichen: mir das Leben einer Tochter schenken, weil
er mir das einer anderen genommen hatte. Aber Ciaire würde Elizabeth nicht
ersetzen; ich hätte sie beide haben sollen. Und dennoch war diese Gleichung
ungemein simpel: Du kannst eine haben
oder keine. Wofür entscheidest du dich?
Ich war diejenige, die Shay Bourne hasste
- Ciaire war ihm nie begegnet. Wenn ich mich entschied, das Herz nicht zu
nehmen, tat ich das dann, weil ich das Beste für Ciaire wollte ... oder weil
ich mir beweisen wollte, wie viel ich aushalten konnte?
Ich stellte mir vor, wie Dr. Wu Bournes
Herz aus einem Kühlbehälter nahm. Da war es, eine hutzelige Nuß, ein Kristall,
so schwarz wie Kohle. Gib einen Tropfen Gift in lupenreines Wasser, was
geschieht dann mit dem Rest?
Wenn ich Bournes Herz nicht nahm, würde
Ciaire höchstwahrscheinlich sterben.
Wenn ich es nahm, wäre das so, als würde
ich sagen, ich könnte für den Tod meines Mannes und meiner Tochter entschädigt
werden. Und das konnte ich nicht - niemals.
Ich glaube, dass ein guter Mensch
Schlechtes tun kann, hatte
Father Michael gesagt. Wie zum Beispiel die falsche Entscheidung aus den
richtigen Gründen treffen. Das Leben deiner Tochter aufgeben, weil sie nicht
das Herz eines Mörders haben soll.
Vergib mir, Ciaire, dachte ich, und auf einmal fror ich nicht mehr. Ich glühte, von den
brennenden Tränen auf meinen Wangen.
Ich hatte einfach kein Vertrauen zu Shay
Bournes plötzlicher, selbstloser Kehrtwendung, und vielleicht hieß das ja, dass
er gewonnen hatte: Ich war genauso verbittert und verdorben wie er geworden.
Aber das gab mir nur um so mehr die Gewißheit, dass ich die Kraft hatte, ihm
von Angesicht zu Angesicht zu sagen, was es bedeutete, die Waagschalen
auszugleichen. Es bedeutete nicht, mir für Ciaire ein Herz zu geben oder mir
eine Zukunft anzubieten, die den Schmerz der Vergangenheit lindern könnte. Es
bedeutete zu wissen, dass Shay Bourne einen sehnlichen Wunsch hatte und dass
diesmal ich es war, die ihm den Traum nahm.
MAGGIE
Völlig verdattert legte ich den Hörer auf
die Gabel und überlegte, die im Display angezeigte Nummer zurückzurufen, um
ganz sicherzugehen, dass sich da keiner einen Scherz mit mir erlaubt hatte.
Na ja, vielleicht geschahen ja
tatsächlich noch Zeichen und Wunder.
Aber noch ehe ich groß über diese neue
Entwicklung nachdenken konnte, hörte ich Schritte, die sich meinem
Schreibtisch näherten. Father Michael bog um die Ecke, und er hatte einen
Ausdruck im Gesicht, als käme er frisch aus Dantes Inferno. »June Nealon will
nichts mit Shay zu tun haben.«
»Seltsam«, sagte ich. »June Nealon hat
mir nämlich gerade eben am Telefon mitgeteilt, dass sie zu einem
Täter-Opfer-Gespräch bereit ist.«
Father Michael wurde bleich. »Rufen Sie
sie zurück. Das ist keine gute Idee.«
»Aber sie ist doch auf Ihrem Mist
gewachsen.«
»Da hatte ich noch nicht mit ihr
gesprochen. Wenn sie zu dem Gespräch geht, dann nicht, weil sie hören will, was
Shay zu sagen hat, sondern weil sie ihn fertigmachen will, ehe seine Strafe
vollstreckt wird.«
»Haben Sie denn ernsthaft geglaubt, das,
was Shay ihr zu sagen hat, würde weniger schmerzvoll sein als das, was sie ihm
sagt?«
»Keine Ahnung ... ich hab gedacht,
vielleicht wenn sie einander erst mal gegenübersitzen ...« Er sank auf einen
Stuhl vor meinem Schreibtisch. »Was mach ich hier eigentlich? Ich schätze, für
manche Dinge gibt es einfach keine Wiedergutmachung.«
Ich seufzte. »Sie bemühen sich. Mehr kann
keiner von uns tun. Hören Sie, ich hab auch nicht jeden Tag mit Mandanten zu
tun, die in der Todeszelle sitzen -
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