Das Herz ihrer Tochter
aber mein Boss hat viel Erfahrung auf dem
Gebiet. Er hat früher in Virginia gearbeitet, ehe er hierher in den Norden
gezogen ist. Solche Fälle sind emotionale Minenfelder - man lernt den Häftling
gut kennen, man entschuldigt eine gräßliche Straftat mit einer miesen Kindheit
oder mit Alkoholismus oder Unzurechnungsfähigkeit oder Drogenkonsum, bis man
die Angehörigen des Opfers begegnet und eine völlig andere Leidensstufe
kennenlernt. Und auf einmal schämt man sich ein bisschen dafür, auf der Seite
des Täters zu stehen.«
Ich ging zu einer kleinen Kühlbox neben
einem Aktenschrank und nahm eine Flasche Wasser für den Priester heraus. »Shay
ist schuldig, Father. Das hat ein Gericht bereits entschieden. June weiß das.
Ich weiß das. Alle Welt weiß, dass es falsch ist, einen Unschuldigen
hinzurichten. Die eigentliche Frage lautet, ob es auch falsch ist, einen
Schuldigen hinzurichten.«
»Aber Sie wollen doch erreichen, dass er
gehängt wird«, sagte Father Michael.
»Ich will nicht erreichen, dass er
gehängt wird«, stellte ich klar. »Ich will mich für seine Bürgerrechte
einsetzen und den Menschen in diesem Land gleichzeitig vor Augen führen, was
an der Todesstrafe falsch ist. Und beides erreiche ich nur, wenn ich es ihm
ermögliche, so zu sterben, wie er es will. Das ist der Unterschied zwischen
Ihnen und mir. Sie versuchen, es ihm zu ermöglichen, so zu sterben, wie Sie es wollen.«
»Sie selbst haben doch gesagt, dass Shays
Herz für eine Spende vielleicht gar nicht infrage kommt. Und selbst wenn, June
Nealon wird es niemals annehmen«, sagte der Priester.
Das war natürlich durchaus möglich.
Allerdings hatte Father Michael bei seiner Idee, June und Shay an einen Tisch
zu bringen, eines geflissentlich übersehen: Um vergeben zu können, muss man
sich daran erinnern, wie man verletzt wurde. Und um vergessen zu können, muss
man die eigene Rolle in dem, was geschehen ist, akzeptieren.
»Wenn wir nicht wollen, dass Shay die
Hoffnung verliert«, sagte ich, »dann sollten wir sie auch nicht verlieren.«
MICHAEL
Wenn ich mittags keine Messe halten
musste, besuchte ich Shay. Manchmal sprachen wir über Fernsehsendungen, die wir
gesehen hatten - wir waren beide Fans von Grey's Anatomy. Manchmal
sprachen wir über seine Arbeit als Zimmermann, über meine Arbeit in der
Gemeinde. Manchmal sprachen wir auch über seinen Fall - die Berufungen, die er
verloren hatte, die Anwälte, die er im Laufe der Jahre gehabt hatte. Und
manchmal war er weniger klarsichtig. Dann lief er in seiner Zelle umher wie
ein Tiger im Käfig, saß auf seinem Bett und wippte vor und zurück, oder er
sprang von einem Thema zum nächsten, als könne er nur so den Dschungel seiner
Gedanken durchqueren.
Eines Tages fragte Shay mich, was denn
draußen so über ihn gesprochen würde.
»Das wissen Sie doch«, erwiderte ich.
»Sie gucken doch die Nachrichten.«
»Die Leute glauben, ich kann sie
erretten«, sagte Shay.
»Na ja. Stimmt.«
»Das ist ganz schön egoistisch, finden
Sie nicht? Oder ist es egoistisch von mir, wenn ich es nicht versuche?«
»Die Frage kann ich nicht für Sie
beantworten, Shay«, sagte ich.
Er seufzte. »Ich bin es satt, auf den Tod
zu warten«, sagte er. »Elf Jahre sind eine lange Zeit.«
Ich rückte mit meinem Hocker näher an die
Zellentür; so waren wir ungestörter. Ich hatte eine Woche gebraucht, aber
schließlich war es mir gelungen, meine Ansichten zu Shays Fall von den seinen
zu trennen. Ich hatte mit Erstaunen gehört, dass Shay sich für unschuldig hielt
- obwohl Direktor Coyne mich vorgewarnt hatte, dass alle Häftlinge von ihrer
Unschuld überzeugt waren, ganz gleich, weshalb sie einsaßen. Ich fragte mich,
ob seine Erinnerung an die Ereignisse mit der Zeit verblaßt war - ich selbst
konnte mich an die schrecklichen Beweismittel mit einer Klarheit erinnern, als
hätte ich sie erst gestern gesehen. Aber wenn ich ein wenig nachhakte - ihn
aufforderte, mir mehr über seine ungerechtfertigte Verurteilung zu erzählen, zu
bedenken gab, dass Maggie die Informationen vielleicht vor Gericht verwenden
könnte, oder wissen wollte, warum er sich nicht vehementer gegen die
Hinrichtung wehrte, wenn er doch unschuldig war -, dann machte er dicht. Er
sagte immer wieder, was damals geschehen war, spiele heute keine Rolle mehr.
Allmählich wurde mir klar, dass seine Unschuldsbeteuerungen weitaus weniger mit
der Realität seines Falles zu tun hatten als mit der zerbrechlichen Beziehung
zwischen uns.
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