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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Ich wurde für ihn mehr und mehr zur Vertrauensperson, und er wollte,
dass ich das Beste von ihm dachte.
    »Was, glauben Sie, ist leichter?«, fragte
Shay. »Zu wissen, dass man an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Uhrzeit
sterben wird, oder zu wissen, dass es jeden Moment sein kann, wenn man
überhaupt nicht damit rechnet?«
    Ein Gedanke schwamm mir durch den Kopf
wie ein kleiner Fisch: Hast
du das Elizabeth gefragt? »Ich
möchte es lieber nicht wissen«, sagte ich. »Lebe jeden Tag, als wäre es dein
letzter und so. Aber ich glaube, wenn man genau weiß, dass man sterben wird,
hat Christus uns gezeigt, wie das mit Würde geht.«
    Shay schmunzelte. »Donnerwetter. Heute
haben Sie volle zweiundvierzig Minuten gebraucht, um den guten alten Jesus aufs
Tapet zu bringen.«
    »'tschuldigung. Berufskrankheit«, sagte
ich. »Als er in Gethsemane sagte: >Mein Vater, wenn es möglich ist, so lass
diesen Kelch an mir vorübergehen ...<, da rang er mit dem Schicksal... doch
letztlich akzeptierte er Gottes Willen.«
    »Da hatte er aber schlechte Karten«,
sagte Shay.
    »Ja, ihm haben ganz sicher die Knie
geschlottert, als er das Kreuz tragen musste. Er war schließlich ein Mensch. Du
kannst so tapfer sein, wie du willst, aber trotzdem schlägt dein Magen
Purzelbäume.«
    Ich verstummte und sah, dass Shay mich
anstarrte. »Haben Sie sich je gefragt, ob Sie völlig schiefliegen?“
    »Mit was?«
    »Mit allem. Was Jesus gesagt hat. Was
Jesus gemeint hat. Ich meine, er hat nicht mal die Bibel geschrieben, stimmt's?
Und die Leute, die die Bibel geschrieben haben, waren noch nicht mal geboren,
als Jesus gelebt hat.« Ich sah wohl ziemlich angeschlagen aus, denn Shay
sprach rasch weiter. »Womit ich nicht sagen will, dass Jesus kein richtig
cooler Typ war - toller Lehrer, überragender Redner, blablabla. Aber ... der
Sohn Gottes? Wo ist der Beweis?«
    »Genau das macht den Glauben aus«, sagte
ich. »Man glaubt, ohne zu sehen.«
    »Okay«, sagte Shay. »Aber was ist mit den
Leuten, die meinen, sie setzen aufs richtige Pferd, wenn sie an Allah glauben?
Oder die den achtfachen Pfad für den richtigen halten? Ich meine, wie kann
einer, der übers Wasser gegangen ist, getauft werden?«
    »Wir wissen, dass Jesus getauft wurde,
weil -«
    »Weil es in der Bibel steht?« Shay
lachte. »Irgendwer hat die Bibel geschrieben, und das war nicht Gott. Genau wie
irgendwer den Koran geschrieben hat und den Talmud. Und er musste Entscheidungen
treffen, was alles reinkommt und was nicht. Genau so, wie wenn man einen Brief
aus dem Urlaub schreibt. Da erzählt man, was man alles Schönes erlebt hat, aber
man läßt weg, dass einem die Brieftasche geklaut wurde und dass man sich den
Magen verdorben hat.«
    »Muss man denn ernsthaft wissen, ob Jesus
sich den Magen verdorben hat?«, fragte ich.
    »Darum geht's nicht. Sie können nicht
Matthäus 26:39 aufschlagen oder Lukas 500:43 oder sonst was und alles so lesen,
als wäre es wirklich passiert.«
    »Und da liegen Sie schief, Shay. Ich kann Matthäus 26:39 aufschlagen
und weiß, dass es das Wort Gottes ist. Oder Lukas 500:43, wenn Lukas so viele
Kapitel hätte.«
    Inzwischen spitzten die Häftlinge in den
Nachbarzellen die Ohren. Einige von ihnen - wie Joey Kunz, der griechisch-orthodox
war, und Pogie, ein Baptist - hörten gern zu, wenn ich mit Shay sprach und aus
der Bibel las. Der eine oder andere hatte sogar gefragt, ob ich nicht kurz zu
ihm kommen und mit ihm beten könne, wenn ich Shay besuchte. »Halt die Klappe,
Bourne«, brüllte Pogie. »Du wanderst geradewegs in die Hölle, wenn sie dir die
Nadel in den Arm stecken.«
    »Ich sage ja nicht, dass ich
richtigliege«, sagte Shay, und seine Stimme wurde lauter. »Ich sage bloß, wenn
Sie richtigliegen, heißt das trotzdem nicht, dass ich falschliege.«
    »Shay«, sagte ich, »Sie dürfen nicht
schreien, sonst sagen die Aufseher, ich muss gehen.«
    Er trat zu mir an die Tür und drückte die
Hände flach gegen das Gitter. »Was, wenn es keine Rolle spielen würde, ob man
Christ ist oder Jude oder Buddhist oder Wicca-Anhänger oder...
Transzendentalist? Was, wenn all diese Wege zum selben Ort führen?«
    »Religion führt Menschen zusammen«, sagte
ich.
    »Ja, genau. Jedes polarisierende Thema in
diesem Land läßt sich irgendwie mit Religion verknüpfen. Stammzellenforschung,
Irakkrieg, Sterbehilfe, Homo-Ehe, Abtreibung, Evolutionslehre, sogar die
Todesstrafe - was ist die Bruchlinie? Ihre Bibel.« Shay zuckte die Achseln.
»Glauben Sie im

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