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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Häftlinge wie in Miniatureinzelzellen
untergebracht waren, während der Therapeut auf einem Stuhl davor saß. »Es ist
eine Gruppentherapie«, hatte Direktor Coyne stolz hinzugefügt, »aber sie sind
weiterhin eingesperrt.«
    Maggie hatte beantragt, auf die Minizelle
für Shay zu verzichten und das Gespräch in einer Besucherkabine durchzuführen,
getrennt durch eine Sicherheitsglasscheibe, was jedoch abgelehnt worden war.
Die Besucherkabine, so die Begründung der Verwaltung, sei für alle beteiligten
Personen zu klein. Obwohl ich - genau wie Maggie - fand, dass es ein schwerer
Nachteil für Shay war, sicherheitstechnisch wie Hannibal Lecter behandelt zu
werden, konnten wir nicht mehr für ihn rausschlagen.
    Die Mediatorin, die von der Opferhilfe
der Staatsanwaltschaft kam, hieß Abigail Herrick, und sie unterhielt sich leise
mit June auf einer Seite des Vorraums. Sobald ich eintrat, ging ich gleich zu
June. »Danke. Dieses Treffen ist sehr wichtig für Shay.«
    »Deshalb mach ich es ganz bestimmt
nicht«, sagte June und wandte sich wieder Abigail zu.
    Ich schlich mich durch den Raum zu dem
Platz neben Maggie. Sie stoppte gerade eine Laufmasche in einem ihrer Seidenstrümpfe
mit rosa Nagellack. »Wir haben ein echtes Problem«, sagte ich.
    »Ach ja? Wie geht's ihm?«
    »Er ist panisch.« Als sie den Kopf hob,
kniff ich die Augen zusammen und blinzelte. »Wo haben Sie denn die Beule her?«
    »In meiner Freizeit boxe ich
Halbmittelgewicht.«
    Ein Summton ertönte, und Direktor Coyne
kam herein. »Es kann losgehen.«
    Er führte uns durch den Metalldetektor in
die Cafeteria. Maggie und ich hatten schon unsere Taschen geleert und die
Jacken ausgezogen, ehe June und Abigail, noch immer ins Gespräch vertieft,
überhaupt merkten, was los war. Als ein Aufseher in voller Schutzausrüstung für
June die Tür öffnete, starrte sie ihn entsetzt an. Dann ging sie an ihm vorbei.
    Shay saß auf einem Stuhl in einer Metallkabine
von der Größe einer Telefonzelle. Gitterstäbe durchschnitten sein Gesicht.
Seine Augen suchten Blickkontakt mit mir, als er uns hereinkommen sah, und er
stand auf.
    Im selben Augenblick erstarrte June auf
der Stelle.
    Abigail nahm ihren Arm und führte sie zu
einem der vier Stühle, die im Halbkreis vor der Kabine aufgestellt waren.
Sobald sie Platz genommen hatten, setzten Maggie und ich uns auf die frei
gebliebenen Stühle. Zwei Aufseher postierten sich hinter uns. Ich hörte, dass
irgendwo etwas auf dem Grill brutzelte.
    »So. Fangen wir an«, sagte Abigail und
stellte sich vor. »Shay, ich bin Abigail Herrick, und ich fungiere hier als
Mediatorin. Wissen Sie, was das bedeutet?«
    Er zögerte. Er sah aus, als würde er
jeden Augenblick in Ohnmacht fallen.
    »Die Opfer-Täter-Mediation bietet dem
Opfer Gelegenheit, dem Täter in einem sicheren und strukturierten Rahmen gegenüberzutreten«,
erläuterte Abigail. »Das Opfer kann dem Täter erklären, welche physischen,
emotionalen und finanziellen Auswirkungen die Tat hatte. Das Opfer hat darüber
hinaus Gelegenheit, Antwort auf eventuell noch bestehende Fragen hinsichtlich
der Tat zu bekommen, und kann direkt an der Ausarbeitung eines Plans beteiligt
werden, wie der Täter, falls möglich, seine Schuld begleichen kann - in
emotionaler oder finanzieller Hinsicht. Im Gegenzug erhält der Täter
Gelegenheit, die Verantwortung für seine Tat zu übernehmen. Können mir alle so
weit folgen?«
    Ich fragte mich, warum nicht nach jeder
Verurteilung eines Straftäters ein Mediationsverfahren durchgeführt wurde. Zugegeben,
es war arbeitsaufwendig für Staatsanwaltschaft und Gefängnisverwaltung, aber
war es nicht besser, sich mit der Gegenseite zusammenzusetzen, als nur auf
reinen Strafvollzug zu bauen?
    »Also, die Beteiligung ist freiwillig. Das
bedeutet, falls June gehen will, kann sie das jederzeit tun. Allerdings«, fügte
Abigail hinzu, »möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass die Initiative zu
diesem Treffen von Shay ausging, was ein sehr guter erster Schritt ist.«
    Sie blickte erst mich an, dann Maggie,
dann June und schließlich Shay. »So, Shay«, sagte Abigail, »als Erstes müssen
Sie sich anhören, was June zu sagen hat.«
     
    JUNE
     
    Es heißt, dass man
Trauer irgendwann überwindet, aber das stimmt nicht. Es ist jetzt elf Jahre
her, und es tut noch genauso weh wie an jenem ersten Tag.
    Als ich sein Gesicht sah - von den
Metallstäben in Segmente zerschnitten, wie ein Porträt von Picasso, das sich
nicht wieder zusammenfügen ließ -, war

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