Das Herz ihrer Tochter
platzte
Shay heraus. »Wirklich. Ich wollte das nicht, bloß manchmal, wenn ...«
»Shay«, befahl ich. »Setzen Sie sich.«
»Ich wollte das wirklich nicht. Ich hab
Ihre Hand nicht kommen sehen. Ich dachte, Sie wären - würden -« Er verstummte,
würgte an den Worten. »Es tut mir leid.«
Der Fehler ging auf mein Konto. Einen
Menschen, der seit über zehn Jahren in einer Einzelzelle eingesperrt war, der
nur dann die Berührung eines anderen erlebte, wenn ihm die Handschellen
angelegt oder abgenommen wurden, den musste eine so schlichte freundliche Geste
völlig aus Bahn werfen. Er hatte sich instinktiv bedroht gefühlt, und deshalb
war ich der Länge nach auf dem Boden gelandet.
»Wird nicht wieder vorkommen«, sagte ich.
Er schüttelte heftig den Kopf. »Nein.“
»Bis morgen, Shay.“
»Sind Sie böse auf mich?“
»Nein.«
»Doch. Ich seh's Ihnen
an.«
»Nein, wirklich nicht«,
sagte ich.
»Würden Sie mir dann
wohl einen Gefallen tun?«
Andere Anwälte mit Häftlingen als
Mandanten hatten mich vorgewarnt: Die nehmen dich aus wie eine Weihnachtsgans.
Bitten dich um Briefmarken, Geld, Essen. Bitten dich, Angehörige für sie
anzurufen. Das sind die raffiniertesten Schwindler. Egal, wie viel Mitgefühl du
ihnen auch entgegenbringst, eines darfst du nie vergessen: Die nehmen, was sie
kriegen können, weil sie nichts haben.
»Wenn Sie das nächste Mal kommen,
beschreiben Sie mir dann, was das für ein Gefühl ist, barfuß über Gras zu
laufen?«, fragte er. »Ich hab's mal gewusst, aber ich kann mich nicht mehr
erinnern.« Er schüttelte den Kopf. »Ich möchte bloß... ich möchte bloß wieder
wissen, wie das ist.«
Ich klemmte mir mein Notizbuch unter den
Arm. »Bis morgen, Shay«, wiederholte ich, und dann gab ich dem Aufseher einen
Wink, mich rauszulassen.
MICHAEL
Shay Bourne lief in seiner Zelle im
Kreis. Nach jeder fünften Runde drehte er sich auf dem Absatz um und wechselte
die Richtung. »Shay«, sagte ich, um ihn zu beruhigen und mich ebenso, »es wird
alles gut.«
Wir warteten darauf, dass er abgeholt und
zu dem Raum gebracht wurde, wo das Täter-Opfer-Treffen mit June Nealon
stattfinden sollte, und wir waren beide nervös.
»Reden Sie mit mir«,
sagte Shay.
»Okay«, sagte ich. »Worüber wollen Sie
reden?«
»Was ich sagen soll. Was sie sagen wird ... die Worte
kommen nicht richtig raus, ich weiß es einfach.« Er sah mich an. »Ich werd's
vermasseln.«
»Sagen Sie einfach, was Sie sagen müssen,
Shay. Worte fallen jedem schwer.«
»Na ja, aber es ist noch schlimmer, wenn
der Mensch, mit dem du redest, denkt, du lügst ihm was vor.«
»Jesus hat es auch geschafft«, sagte ich,
»ohne dass Er vorher ein Rhetorikseminar in Ninive besucht hat.« Ich schlug das
Buch Jesaja in meiner Bibel auf. »Der Geist des Herrn, Jehovas, ist auf mir,
weil Jehova mich gesalbt hat, um den Sanftmütigen frohe Botschaft zu
bringen...«
»Könnten wir bloß dieses eine Mal auf die
Bibelandacht verzichten?«, stöhnte Shay.
»Das ist nur ein Beispiel«, sagte ich.
»Jesus hat das gesagt, als er zu der Synagoge zurückkam, in deren Nähe er
aufgewachsen war. Glauben Sie mir, die Gemeinde da hatte jede Menge Fragen -
schließlich hatten die Leute ihn lange gekannt, bevor er mit seinen Wundern
loslegte -, also was hat er gemacht, ehe sie an ihm zweifeln konnten? Er
lieferte ihnen das, was sie hören wollten. Er gab ihnen Hoffnung.« Ich blickte
Shay an. »Genau das müssen Sie auch tun, im Gespräch mit June.«
Die Tür zu Block I öffnete sich, und
sechs Aufseher kamen herein. »Reden Sie erst, wenn die Mediatorin Sie
auffordert. Und erläutern Sie unbedingt, warum Ihnen die Sache so wichtig ist«,
schob ich noch rasch nach.
Dann waren die Aufseher bei uns.
»Father«, sagte der Erste, »wir bringen den Häftling jetzt nach unten. Bitte
kommen Sie nach.«
Ich sah zu, wie sie Shay den Laufgang
hinunterführten. Lass dein Herz
sprechen, dachte ich, als ich ihm
nachschaute. Damit sie weiß, es ist ihrer
Tochter würdig.
Man hatte mir bereits gesagt, wie es
ablaufen würde. Sie würden ihm Hand- und Fußschellen anlegen, die wiederum mit
einer Kette um den Bauch verbunden waren, sodass er, umringt von den Aufsehern,
nur kleine Trippelschritte machen könnte. Er würde in die Cafeteria gebracht
werden, in der das Täter-Opfer-Gespräch stattfinden sollte. Bei
Gruppentherapiesitzungen mit Gewalttätern, so hatte der Direktor erklärt,
wurden Metallkabinen am Boden verankert, in denen die
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