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Das Herz ihrer Tochter

Das Herz ihrer Tochter

Titel: Das Herz ihrer Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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alles wieder da. Dieses Gesicht, dieses verdammte Gesicht, war das Letzte, das Kurt und Elizabeth gesehen hatten.
    In der ersten Zeit danach traf ich
ständig irgendwelche Abmachungen mit mir selbst. Ich sagte mir, ich würde
ihren Tod verkraften, falls - und dann dachte ich mir irgend etwas aus. Falls
es schnell und schmerzlos gewesen war. Falls Elizabeth in Kurts Armen gestorben
war. Wenn ich mit dem Auto unterwegs war, sagte ich mir oft Dinge wie: Falls
die nächste Ampel auf Grün springt, ehe ich anhalten muss, dann ist das wahr,
was ich mir ausgedacht habe. Ich gestand mir nicht ein, dass ich Gas wegnahm,
um die Chancen zu erhöhen.
    Dass ich es in den ersten Monaten
überhaupt schaffte, mich aus dem Bett zu quälen, lag daran, dass es jemanden
gab, der noch bedürftiger war als ich. Ciaire ließ mir keine Wahl. Sie musste
gefüttert und gewickelt und gehalten werden. Sie hielt mich so fest in der
Gegenwart verankert, dass ich die Vergangenheit irgendwann loslassen musste.
Ciaire rettete mir das Leben. Vielleicht ist das der Grund, warum ich mich
unbedingt revanchieren will.
    Aber obwohl Ciaire bei mir war, genügte
manchmal die kleinste Kleinigkeit, mich ins Bodenlose zu stürzen: Während ich
sieben Kerzen in ihren Geburtstagskuchen drückte, dachte ich an Elizabeth, die
vierzehn gewesen wäre. Oder ich öffnete in der Garage eine Kiste, und der
Geruch der Zigarillos, die Kurt so gern geraucht hatte, stieg mir in die Nase.
Ich schraubte den Deckel einer Dose Vaseline ab und sah Elizabeths winzigen
Fingerabdruck, der auf der Oberfläche bewahrt worden war. Ich nahm einen
Karton aus einem Regal und ein Einkaufszettel flatterte heraus, in Kurts
Handschrift: Heftzwecken, Milch, Steinsalz.
    Um Shay Bourne zu sagen, welche
Auswirkungen seine Tat auf meine Familie gehabt hatte, hätten folgende Worte
genügt: Sie hat meine Familie ausgelöscht, Punkt, aus. Ich hätte gern gehabt,
dass er dabei gewesen wäre, als Ciaire mit vier Jahren auf ein Foto von
Elizabeth zeigte und fragte, wo das Mädchen, das Ähnlichkeit mit ihr hatte,
wohnte. Ich würde ihm gern die Stelle in dem Zimmer zeigen, das er gebaut hat,
Claires altem Kinderzimmer, wo auf den Dielen ein Blutfleck ist, den ich
einfach nicht wegbekomme. Ich würde ihm gern sagen, dass in dem jetzigen Gästezimmer
inzwischen ein Teppichboden liegt, ich aber noch immer nicht imstande bin, die
Stelle zu überqueren, sondern auf Zehenspitzen drum herumgehe, wenn ich den
Raum betreten muss. Ich würde ihm gern die Rechnungen von Claires
Krankenhausaufhalten zeigen, eine Summe, die das Geld von Kurts Lebensversicherung
rasch verschlungen hatte. Ich würde ihn gern in die Bank mitnehmen, an dem Tag,
als ich vor dem Schalter in Tränen ausbrach und der Angestellten sagte, ich
wolle das Sparbuch für Elizabeth Nealons Studium auflösen.
    Ich würde gern den Moment noch einmal
spüren, in dem Elizabeth, wenn sie auf meinem Schoß saß und ich ihr vorlas,
ganz weich wurde, weil sie in meinen Armen eingeschlafen war. Ich würde gern
noch einmal hören, wie Kurt mich Red nennt, wegen meiner Haare, mit denen er
immer spielte, wenn wir abends im Schlafzimmer Fernsehen guckten. Ich würde
gern noch einmal Elizabeth' schmutzige Socken aufsammeln, die sie immer verstreut
im Haus herumliegen ließ, ein kleiner Tornado, weshalb ich sie manchmal
ausschimpfte. Ich würde so furchtbar gern noch einmal mit Kurt über die Höhe
der Kreditkartenabrechnung streiten.
    Wenn sie schon sterben mussten, dann
hätte ich es gern im Voraus gewusst, um mir jede Sekunde mit ihnen ganz fest
einzuprägen, statt davon auszugehen, es gäbe noch unzählige mehr. Wenn sie
schon sterben mussten, dann wäre ich gern dabei gewesen, um das letzte Gesicht
zu sein, das sie sahen, statt seines.
    Ich würde Shay Bourne gern sagen, er soll
zur Hölle fahren, damit er nach seinem Tod ja nicht auch nur in die Nähe meiner
Tochter und meines Mannes kommt.
     
    MICHAEL
     
    »Warum?«, fragte June Nealon. Ihre Stimme
klang wie durchzogen von Rost und Trauer, und ihre Hände in ihrem Schoß
zuckten. »Warum haben Sie es getan?« Sie hob die Augen, starrte Shay an. »Ich
habe Sie in mein Haus gelassen. Ich habe Ihnen Arbeit gegeben. Ich habe Ihnen
vertraut! Und Sie, Sie haben mir alles genommen, was ich hatte.«
    Shay bewegte lautlos den Mund. Er drehte
sich in seiner kleinen Kabine von einer Seite zur anderen, stieß sich mehrmals
die Stirn. Seine Augen flatterten, als hätte er große Mühe, die Worte zu
ordnen, die er

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