Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
Liebe und Hass bekriegten sich in seiner Seele: die Liebe zu seinem Volk und der Hass gegen die Unterdrücker seines Volkes, und dieser Kampf machte seine Seele müde und krank.
»Gib mir Uhr und Mantel, meine Tochter«, sagte er. »Ich gehe jetzt.«
Auf die Armlehnen des Stuhls gestützt, stand er auf. Der Fußboden schien weit weg zu sein; nach der langen Zeit im Bett war er sehr unsicher auf den Beinen. Einen Augenblick fürchtete er umzusinken. Benommen ging er durch den kalten Raum und lehnte sich an den Türpfosten. Er musste husten und holte ein Papiertaschentuch aus der Tasche und hielt es sich vor den Mund.
»Hier dein Mantel«, sagte Portia. »Ist aber draußen so heiß, du wirst ihn gar nicht brauchen.«
Zum letzten Mal ging er durch das leere Haus. Die Jalousien waren heruntergelassen, und in den dunklen Zimmern roch es nach Staub. Er lehnte sich im Hausflur an die Wand; dann ging er hinaus. Es war ein strahlender, warmer Morgen. Gestern Abend und heute früh waren viele Freunde gekommen, um ihm Lebewohl zu sagen; jetzt aber war nur die Familie auf der Veranda versammelt. Der Wagen und das Auto standen vor dem Haus.
»Also, Benedict Mady«, sagte der Alte. »Vielleicht wirst du die ersten Tage ’n bisschen Heimweh haben. Aber das geht vorbei.«
»Ich habe kein Heim. Warum sollte ich also Heimweh haben?«
Portia leckte sich nervös die Lippen: »Er kann ja immer wieder her, wenn er will. Buddy wird ihn gern mit dem Wagen in die Stadt fahren. Buddy freut sich, wenn er fahren darf.«
Auf den Trittbrettern des Autos wurden Bücherkisten festgebunden, und auf dem Rücksitz waren zwei Stühle und der Aktenschrank verstaut. Doktor Copelands Schreibtisch lag, die Beine nach oben, auf dem Verdeck. Das Auto war überladen – der Wagen dagegen fast leer. Der Maulesel, dessen Zügel mit einem Ziegelstein beschwert waren, wartete geduldig.
»Karl Marx«, sagte Doktor Copeland. »Sieh noch einmal alles durch. Geh durchs Haus und vergewissere dich, dass nichts liegengeblieben ist. Bring auch die Tasse vom Fußboden mit und meinen Schaukelstuhl.«
»Wir müssen los, ich möchte gern zum Abendessen zu Haus sein«, drängte Hamilton.
Schließlich war alles bereit. Highboy kurbelte das Auto an, Karl Marx setzte sich ans Steuer, und Portia, Highboy und William zwängten sich auf den Rücksitz.
»Vater, setz dich auf Highboys Schoß. Ich glaub, das ist bequemer als zwischen uns und den vielen Möbeln.«
»Nein, das wird zu voll. Ich möchte lieber mit dem Wagen fahren.«
»Aber du bist nicht dran gewöhnt«, meinte Karl Marx. »Wird ziemlich holprig werden und den ganzen Tag dauern.«
»Das macht nichts. Ist nicht das erste Mal, dass ich mit einem Wagen fahre.«
»Sag Hamilton, er soll zu uns kommen. Bestimmt fährt er lieber im Auto.«
Großpapa hatte den Wagen am Tag zuvor in die Stadt kutschiert. Sie hatten allerlei Lebensmittel geladen – Pfirsiche, Kohl und Rüben –, die Hamilton in der Stadt verkaufen wollte. Bis auf einen Sack Pfirsiche waren sie alles losgeworden.
»Also, Benedict Mady, dann fährst du mit mir heim«, sagte der Alte.
Doktor Copeland setzte sich hinten auf den Wagen. Er war müde und fühlte sich so schwer, als wären seine Beine aus Blei. Sein Kopf zitterte, und eine plötzliche Übelkeit zwang ihn dazu, sich flach auf die nackten Bretter zu legen.
»Freut mich riesig, dass du zu uns kommst«, sagte Großpapa. »Du weißt, ich hab immer große Hochachtung für Gelehrte gehabt. Große Hochachtung, ja. Wenn ein Mann Gelehrter ist, kann ich ’ne ganze Menge übersehen und vergessen. Freut mich riesig, dass wir wieder ’nen gelehrten Mann wie dich in der Familie haben.«
Quietschend setzte sich der Wagen in Bewegung. Sie fuhren. »Ich komme bald wieder«, sagte Doktor Copeland. »Höchstens ein, zwei Monate, dann komme ich wieder.«
»Hamilton ist auch ein richtiger Gelehrter. Ich glaub, er schlägt ein bisschen nach dir. Er schreibt alle Rechnungen für mich, und er liest Zeitung. Und Whitman, der wird wohl mal ’n Gelehrter. Der kann schon jetzt die Bibel vorlesen. Und Kopfrechnen kann er auch. Und noch so ein kleines Kind. Ich hab immer große Hochachtung für Gelehrte gehabt.«
Das Holpern des Wagens tat ihm im Rücken weh. Er sah zu den Zweigen über ihnen auf; als sie nicht mehr im Schatten fuhren, legte er sich das Taschentuch übers Gesicht, um seine Augen vor der Sonne zu schützen. Nein, unmöglich – das konnte nicht das Ende sein. Immer hatte er das eine
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