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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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Gesicht war totenblass, und er geriet derart außer sich, dass ihm die Tränen die Nase herunterrollten, dass er mit den Händen fuchtelte und einmal sogar mit seinem langen, schmalen, elegant beschuhten Fuß auf den feinen Teppich stampfte. Selbst als ihm die fünf Cent zurückerstattet wurden, gab er sich noch nicht zufrieden; er bestand darauf, sofort auszuziehen. Er packte seinen Koffer und drückte ihn unter Aufbietung aller Kräfte zu. Denn außer den Dingen, die er mitgebracht hatte, packte er noch drei Handtücher, zwei Stück Seife, einen Federhalter und ein Tintenfass, eine Rolle Toilettenpapier und eine Bibel hinein. Nachdem er die Rechnung bezahlt hatte, ging er zum Bahnhof, wo er sein Gepäck zur Aufbewahrung abgab. Der Zug fuhr erst um neun Uhr abends – er hatte noch den ganzen Nachmittag vor sich.
    Die Stadt war kleiner als sein Wohnort. Die beiden Geschäftsstraßen kreuzten sich in einem rechten Winkel. Den Geschäften sah man die Kundschaft vom Lande an: In den Schaufenstern waren vorwiegend Pferdegeschirre und Futtersäcke ausgestellt. Teilnahmslos lief Singer durch die Straßen. Sein Hals fühlte sich geschwollen an, er hatte Schluckbeschwerden. Um das würgende Gefühl loszuwerden, ging er in einen Drugstore und kaufte sich etwas zu trinken. Später saß er eine Weile beim Friseur herum und kaufte dann ein paar Kleinigkeiten in einem Warenhaus. Er sah niemandem ins Gesicht, und sein Kopf hing zur Seite wie bei einem kranken Tier.
    Der Nachmittag neigte sich schon seinem Ende zu, als Singer ein merkwürdiges Erlebnis hatte. Er war langsam und ziellos der Straße gefolgt. Der Himmel hatte sich zugezogen, die Luft war feucht. Singer ging mit gesenktem Kopf; als er aber an der Billardhalle vorbeiging, sah er aus dem Augenwinkel etwas, das ihn verwirrte. Er lief weiter, blieb dann aber mitten auf der Straße stehen. Gleichgültig ging er zu dem Lokal zurück. Durch die offene Tür sah er drei Taubstumme, die sich in der Zeichensprache unterhielten. Alle drei waren hemdsärmlig, trugen steife Hüte und bunte Schlipse und hielten in der linken Hand ein Glas Bier. Irgendwie sahen sie einander ähnlich, als wären sie Brüder.
    Singer trat ein. Eine Weile fiel es ihm schwer, die Hände aus den Taschen zu nehmen. Dann formte er unbeholfen eine Begrüßung. Sie klopften ihm auf die Schulter und bestellten ihm etwas Kaltes zu trinken. Sie umringten ihn, und ihre Finger schossen wie kleine Kolben auf ihn los – so sehr bestürmten sie ihn mit Fragen.
    Er nannte ihnen seinen Namen und Wohnort. Sonst fiel ihm nichts ein, was er von sich hätte erzählen können. Er fragte, ob sie Spiros Antonapoulos gekannt hätten. Nein, sie kannten ihn nicht. Singer stand mit hängenden Händen und seitwärts geneigtem Kopf da und sah sie schief an. Er benahm sich so gleichgültig und kalt, dass die drei Taubstummen mit den steifen Hüten ihn argwöhnisch musterten. Nach einer Weile redeten sie ohne ihn weiter, und als sie die Runden Bier gezahlt hatten und aufbrachen, baten sie ihn nicht, sich ihnen anzuschließen.
    Singer war den halben Tag ziellos in der Stadt umhergewandert und versäumte um ein Haar seinen Zug. Er wusste nicht, wie es dazu gekommen war – womit er all die Stunden verbracht hatte. Zwei Minuten vor Abfahrt des Zuges erreichte er den Bahnhof und konnte gerade noch sein Gepäck holen. Er war in einen fast leeren Wagen gestiegen. Als er sich’s bequem gemacht hatte, öffnete er das Erdbeerkistchen und zupfte penibel das Grün von den leuchtendroten Früchten. Es waren riesige, vollreife Beeren, so groß wie Walnüsse, und die Keimblättchen sahen wie winzige Sträußchen aus. Singer steckte eine Beere in den Mund und spürte durch die üppige Süße hindurch einen leichten Anflug von Fäulnis. Er aß so lange, bis er sich an den Geschmack gewöhnt hatte; dann wickelte er das Kistchen wieder ein und legte es ins Gepäcknetz. Um Mitternacht zog er das Rouleau herunter und legte sich zusammengerollt, das Jackett über den Kopf gezogen, auf das Polster. In dieser Stellung blieb er wie betäubt etwa zwölf Stunden liegen. Als sie am Ziel waren, musste der Schaffner ihn wachrütteln.
    Singer ließ sein Gepäck mitten in der Bahnhofshalle stehen und ging in seinen Laden. Den Juwelier, für den er gearbeitet hatte, begrüßte er mit einer gleichgültigen Handbewegung. Als er wieder hinausging, trug er etwas Schweres in der Tasche. Eine Weile irrte er mit gesenktem Kopf durch die Straßen, aber die Sonnenglut und

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