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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carson McCullers
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große, wahre Ziel vor sich gesehen. Vierzig Jahre lang waren seine Mission und sein Leben eins gewesen. Und doch: Alles war noch zu tun, nichts war vollendet.
    »Ja, Benedict Mady, ich freu mich riesig, dass wir dich wieder bei uns haben. Ich wollt dich schon immer fragen wegen dem komischen Gefühl in meinem rechten Fuß. Sonderbares Gefühl, als wär mein Fuß eingeschlafen. Hab schon Tropfen genommen und mit Franzbranntwein eingerieben. Hoffentlich findest du was Gutes für mich.«
    »Ich werde mein Möglichstes tun.«
    »Ja, ich freu mich, dass du kommst. Ich finde, Verwandte müssen zusammenhalten – Blutsverwandte und Angeheiratete. Ich glaube, wir sollten uns zusammen durchschlagen und uns aushelfen, und eines Tages werden wir im Jenseits belohnt.«
    »Pah!«, sagte Doktor Copeland bitter. »Ich glaube an die irdische Gerechtigkeit.«
    »Was sagst du da? Du sprichst so heiser, ich kann dich nicht hören.«
    »Ich glaube an eine Gerechtigkeit für uns. Gerechtigkeit für uns Neger.«
    »Schon recht.«
    Er fühlte es in seinem Innern brennen und konnte nicht still liegenbleiben. Er wollte sich aufrichten und mit lauter Stimme weitersprechen – aber als er es versuchte, verließen ihn seine Kräfte. Die Worte in seinem Herzen wurden lauter und lauter – sie ließen sich nicht zum Schweigen bringen. Aber der alte Mann hörte ihm nicht mehr zu. Da war niemand, der ihm zuhörte.
    »Hü, Lee Jackson. Hü, mein Schätzchen. Heb deine Füße und lass das Bocken. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«
    2
     
    nachmittags
    Jake rannte. Ungestüm stolperte er durch die Weavers Lane, schlug sich in ein Seitengässchen, kletterte über einen Zaun und hastete weiter. Übelkeit stieg in ihm hoch, und er hatte den Geschmack von Erbrochenem in seiner Kehle. Ein Hund jagte kläffend neben ihm her; er blieb stehen und drohte ihm mit einem Stein. Dann rannte er weiter, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen, die Hand vor den offenen Mund gepresst.
    Herrgott! Das also war das Ende. Eine Schlägerei. Ein Tumult. Ein Kampf aller gegen alle. Blut – Köpfe und Augen, von Flaschenscherben zerschnitten. Herrgott! Und über dem Getümmel die Karussellmusik. Auf der Erde Buletten und Zuckerwatte, dazu die plärrenden Gören. Und er mittendrin. Blind von der Sonne und dem Staub, aber mittendrin, Hieb auf Hieb. Scharfe Zähne an seinen Fingerknöcheln. Und Gelächter. Herrgott! Und dieses Gefühl, wie es in einem wilden, harten Rhythmus aus ihm herausbrach, unaufhaltsam. Und wie er dann ganz nah das tote schwarze Gesicht vor sich sah und gar nichts mehr wusste. Nicht einmal, ob er den umgelegt hatte oder ein anderer. Halt! Herrgott! Niemand hatte das verhindern können.
    Jake verlangsamte seinen Schritt und blickte sich nervös um. In der Gasse war niemand zu sehen. Er erbrach sich und wischte sich Mund und Stirn mit dem Hemdsärmel ab. Dann ruhte er sich eine Minute lang aus, bis ihm besser wurde. Etwa acht Blocks weit war er gerannt; wenn er eine Abkürzung nahm, hatte er noch etwa anderthalb Kilometer vor sich. In seinem benommenen Kopf wurde es nun etwas klarer; er konnte sich im Wirrwarr der Gefühle an einzelne Tatsachen erinnern. Er lief weiter, nun in gleichmäßigem Trab.
    Niemand hatte es verhindern können. Den ganzen Sommer über hatte er es ausgetreten wie ein plötzlich aufflackerndes Feuer. Bis heute. Diese Schlägerei hätte niemand verhindern können. Sie schien aus dem Nichts aufzuflammen. Er hatte seine Arbeit an der Luftschaukel unterbrochen, um sich ein Glas Wasser zu holen. Auf dem Weg über den Rummelplatz sah er einen jungen Weißen und einen Neger, die umeinander herumschlichen. Beide waren betrunken. An diesem Nachmittag war die Hälfte aller Besucher betrunken, denn es war Samstag und die Fabriken waren die ganze Woche voll in Betrieb gewesen. Sonnig war es und heiß zum Übelwerden, und die Luft war schwer von Gestank.
    Er sah, wie die beiden Kampfhähne aufeinander losgingen. Aber er wusste: Eigentlich hatte es schon viel früher angefangen. Seit langem hatte er gespürt, dass eine große Schlägerei fällig war. Das Komische war nur, dass er noch Zeit fand, über all das nachzudenken. Etwa fünf Sekunden lang sah er sich die Sache an; dann stürzte er sich hinein. In dieser kurzen Zeit ging ihm vieles durch den Kopf. Er dachte an Singer. Er dachte an die trägen Sommernachmittage, an die dunklen, heißen Nächte, an alle Raufereien, die er verhindert, an alle Streitereien, die er geschlichtet

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