Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
und voller Kummer seid. Legt eure Sünden und Nöte Ihm zu Füßen, Ihm, der starb, um euch zu erlösen. Wohin gehest du, Bruder Blount?«
»Nach Hause, mich besaufen«, sagte Jake. »Muss mich besaufen. Hat der Heiland vielleicht was dagegen?«
»Du Sünder! Der Herr vergisst keins deiner Vergehen. Der Herr hat noch heute Abend eine Botschaft für dich.«
»Hoffentlich vergisst der Herr auch den Dollar nicht, den ich dir letzte Woche gegeben hab?«
»Jesus hat eine Botschaft für dich heute Abend um sieben Uhr fünfzehn. Sei pünktlich zur Stelle und vernimm Sein Wort!«
Jake leckte sich den Schnurrbart. »Bei dir ist jeden Abend so ein Gedränge, dass ich gar nicht durchkomme.«
»Auch für die Spötter ist Platz. Außerdem hat mir der Heiland ein Zeichen gegeben, dass ich bald ein Haus für Ihn bauen soll. Ecke Eighteenth Avenue und Sixth Street. Ein Zelt für fünfhundert Menschen. Wartet nur, ihr Spötter! Der Herr bereitet mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde, er salbet mein Haupt mit Öl und schenket mir voll…«
»Ich kann dir heut Abend ’ne Menge Leute anschleppen«, unterbrach ihn Jake.
»Wie denn?«
»Gib mir deine hübsche bunte Kreide. Verlass dich drauf: ’ne Menge Leute.«
»Ich hab deine Inschriften gesehn«, sagte Simms. »›Arbeiter! Amerika ist das reichste Land der Welt, und trotzdem hungert ein Drittel unseres Volkes. Wann werden wir uns vereinen und unseren Anteil fordern?‹ Lauter solche Sachen. So was nenn ich radikal. Dafür geb ich meine Kreide nicht her.«
»Aber ich will ja nichts anschreiben.«
Simms blätterte misstrauisch abwartend in seiner Bibel.
»Ich krieg ’ne schöne Menge Leute für dich zusammen. Ich mal dir nämlich an jeder Straßenecke ’n paar niedliche nackte Nutten aufs Pflaster. Schön bunt, und daneben ’nen Pfeil als Wegweiser. So ’n paar süße, mollige Nackedeis…«
»Die Hure Babylon!«, kreischte der Alte. »Kind Sodoms! Das wird Gott dir nicht vergessen.«
Jake ging über die Straße, weiter, zu seinem Haus. »Bis nachher, Bruder.«
»Du Sünder!«, rief der Alte ihm nach. »Pünktlich um sieben Uhr fünfzehn bist du wieder hier. Höre Jesu Botschaft – sie wird dich im Glauben stärken. Höre den Erlöser!«
Singer war tot. Als er von seinem Selbstmord erfahren hatte, war er nicht traurig, sondern wütend gewesen. Er stand wie vor einer Mauer. Ihm fiel ein, dass er Singer seine geheimsten Gedanken anvertraut hatte, und nun, da Singer tot war, schienen sie für immer verloren zu sein. Und warum hatte Singer seinem Leben ein Ende gemacht? Vielleicht war er verrückt geworden? Wie auch immer – er war tot, tot, tot. Man konnte ihn nicht mehr besuchen, man konnte ihm nicht mehr die Hand geben oder mit ihm sprechen. Das Zimmer, in dem sie so viele Stunden miteinander gesessen hatten, war an eine Stenotypistin vermietet. Dorthin konnte er nicht mehr gehen. Er war allein. Eine Mauer, eine Treppe – dann eine Straße.
Jake schloss die Zimmertür hinter sich ab. Er war hungrig, aber es war nichts zu essen da. Er war durstig, aber der Krug auf dem Tisch enthielt nur noch ein paar Tropfen lauen Wassers. Das Bett war nicht gemacht, auf dem Fußboden häuften sich die Staubflocken. Das ganze Zimmer lag voller Papier, denn in letzter Zeit hatte er viele kurze Flugblätter verfasst, um sie in der Stadt zu verteilen. Missmutig starrte er auf eines der Blätter: ›Die Gewerkschaft ist dein bester Freund‹, stand darauf. Manche Blätter umfassten nur einen Satz, andere etwas mehr. Auch ein Manifest von einer ganzen Seite war darunter mit dem Titel: ›Was hat unsere Demokratie mit dem Faschismus gemeinsam?‹
Einen Monat lang hatte er an diesen Flugblättern gearbeitet. Er hatte sie während der Arbeitszeit entworfen, dann im Café New York auf der Schreibmaschine mit Durchschlägen getippt und eigenhändig auf der Straße verteilt. Tag und Nacht hatte er an ihnen gearbeitet. Und wer las sie? Hatte auch nur eines von ihnen etwas genützt? Diese Stadt war zu groß für einen Einzelnen. Und nun musste er fort.
Wohin würde er diesmal gehen? Die Namen vieler Städte kamen ihm in den Sinn: Memphis, Wilmington, Gastonia, New Orleans. Er würde irgendwohin gehen. Aber er würde im Süden bleiben. Die alte Ruhelosigkeit, der alte Hunger meldeten sich. Trotzdem – diesmal war es anders. Er sehnte sich nicht nach grenzenloser Weite und Freiheit – nein, diesmal war es gerade umgekehrt. Die Worte des Negers Copeland fielen ihm ein: »Versuchen Sie
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