Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
sie würden mit blaugeschlagenen Augen und gebrochenen Nasen in der Diele liegen bleiben.
Mick rieb sich mit der Faust über die gerunzelte Stirn. So war das also. Sie fühlte sich so, als wäre sie immer wütend. Aber es war nicht die Wut, die man als Kind hat, eine Wut, die schnell wieder verschwindet – nein, das hier war anders. Nur dass es eigentlich nichts gab, worüber man wütend sein konnte. Höchstens das Geschäft. Aber es hatte sie ja dort keiner darum gebeten, die Stelle anzunehmen. Also gab es wirklich nichts, worüber man wütend sein konnte. Ihr war, als hätte man sie betrogen. Nur dass sie niemand betrogen hatte. Also konnte man auch seine Wut an niemandem auslassen. Und dennoch – trotz allem hatte sie dieses Gefühl: betrogen.
Aber vielleicht würde es mit dem Klavier klappen, und dann käme alles in Ordnung. Vielleicht wäre das schon bald möglich. Denn sonst – wozu, zum Teufel, sollte das alles gut gewesen sein? Dass sie so an der Musik hing? Und all die Pläne, die sie in der inneren Welt gemacht hatte? Das alles musste doch zu irgendetwas gut gewesen sein, wenn es einen Sinn haben sollte. Und den musste und musste und musste es haben. Ja, es hatte einen Sinn.
Na also!
O. K.
Einen Sinn.
4
nachts
Alles war friedlich. Während Biff sich Gesicht und Hände abtrocknete, klimperte im Luftzug der Glasbehang der kleinen japanischen Pagode auf dem Tisch. Biff war eben aufgewacht und hatte seine Nachtzigarre geraucht. Er dachte an Blount und fragte sich, wie weit er wohl schon sein mochte. Auf dem Badezimmerregal stand eine Flasche Agua Florida; er betupfte sich mit dem Stöpsel die Schläfen. Er pfiff einen alten Schlager, und als er die enge Treppe hinunterging, folgte ihm ein leicht verzerrtes Echo.
Eigentlich sollte Louis ihn an der Theke vertreten. Aber der hatte sich gedrückt; im Lokal war kein Mensch. Durch die offene Tür sah man auf die leere Straße hinaus. Die Wanduhr zeigte siebzehn Minuten vor Mitternacht. Das Radio war angestellt und brachte gerade einen Kommentar zu der Krise, die wegen Hitler und Danzig ausgebrochen war. Er ging nach hinten in die Küche und fand Louis schlafend auf einem Stuhl. Der Junge hatte die Schuhe ausgezogen und die Hose aufgeknöpft. Der Kopf war ihm auf die Brust gesunken. Ein großer nasser Fleck auf seinem Hemd ließ darauf schließen, dass er schon eine ganze Weile schlief. Seine Arme hingen schlaff herunter, und es war ein Wunder, dass er nicht vornüber mit dem Gesicht auf den Boden fiel. Er hatte einen gesunden Schlaf – wozu sollte er ihn wecken? Heute Nacht würde nicht mehr viel los sein.
Biff ging auf Zehenspitzen durch die Küche zu einem Regal, auf dem ein Korb mit grünen Teeblättern und zwei Wasserkrüge mit Zinnien standen. Er trug die Blumen nach vorn ins Restaurant und nahm die mit Zellophan bedeckten Platten mit dem Tagesmenü aus dem Schaufenster. Immer Esswaren im Fenster – er konnte es nicht mehr sehen. Ein Fenster mit frischen Sommerblumen, das wäre das Richtige. Mit geschlossenen Augen stellte er sich vor, wie er sie arrangieren wollte. Der Boden mit kühlen, grünen Teeblättern bestreut, darauf der rote Tonkrug mit den leuchtenden Zinnien. Weiter nichts. Sorgfältig begann er das Fenster zu dekorieren. Er fand eine Missbildung unter den Blumen: eine Zinnie mit sechs bronzefarbenen und zwei roten Blütenblättern. Er untersuchte den Sonderling und legte ihn beiseite. Als das Schaufenster fertig war, ging er auf die Straße, um sein Werk von außen zu betrachten. Die Blütenstengel waren natürlich und locker arrangiert – gerade richtig. Die Farben kamen bei elektrischer Beleuchtung nicht recht zur Geltung; aber im Tageslicht würde das Fenster sich sehr vorteilhaft ausnehmen. Geradezu künstlerisch.
Der schwarze, sternenübersäte Himmel schien sich dicht über der Erde zu wölben. Biff schlenderte den Gehsteig hinunter und blieb einmal stehen, um mit dem Fuß eine Orangenschale in den Rinnstein zu befördern. Weit weg, am Ende des nächsten Blocks, standen zwei Menschen Arm in Arm; von weitem wirkten sie klein und reglos. Sonst war niemand zu sehen. Sein Lokal war das einzige in der Straße, das geöffnet und erleuchtet war.
Und warum das? Was brachte ihn dazu, sein Café die ganze Nacht über offen zu halten, wenn alle anderen Lokale der Stadt geschlossen waren? Er wurde häufig danach gefragt und wusste nie, was er darauf antworten sollte. Es ging ihm nicht ums Geld. Hin und wieder kam wohl eine größere
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