Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
war es her, dass Blount hier das erste Mal betrunken herumgesessen hatte und der Taubstumme ihm aufgefallen war. Und dass Mick dem Taubstummen auf Schritt und Tritt folgte – auch das hatte damals angefangen. Nun war Singer schon einen Monat tot und begraben. Und immer noch war dieses Rätsel in ihm und ließ ihm keine Ruhe. An der ganzen Sache war irgendetwas Unnatürliches – es war wie ein böser Scherz. Wenn er darüber nachdachte, überkam ihn ein unbehagliches Gefühl, eine unbekannte Angst.
Er hatte sich um die Beerdigung gekümmert. Sie hatten ihm alles überlassen. In Singers Angelegenheiten herrschte große Unordnung. Er hatte zahllose Schulden, auf die Ratenzahlungen fällig waren, und der Mann, auf dessen Namen seine Lebensversicherung abgeschlossen war, lebte nicht mehr. Das Geld reichte gerade für das Begräbnis. Die Trauerfeier fand mittags statt. Die Sonne brannte unbarmherzig auf sie herab, als sie um das feuchte, offene Grab standen. In der Sonnenglut schrumpften die Blumen ein und wurden braun. Mick weinte so bitterlich, dass sie einen Erstickungsanfall bekam und ihr Vater ihr auf den Rücken klopfen musste. Blount starrte finster brütend hinunter ins Grab, die Faust an den Mund gepresst. Der farbige Arzt, der irgendwie mit dem armen Willie verwandt war, stand im Hintergrund und stöhnte. Auch Fremde waren gekommen, die keiner kannte und von denen man bisher noch nie etwas gehört hatte. Weiß der Himmel, wo die alle herkamen und warum sie überhaupt da waren.
Im Raum herrschte eine Stille – tief wie die Nacht. Biff stand wie gebannt, in Gedanken versunken. Dann spürte er einen Stich. Sein Herz setzte aus. Um nicht umzusinken, musste er sich mit dem Rücken gegen die Theke lehnen. In blitzartiger Erleuchtung sah er die Tapferkeit und den Kampf des Menschen vor sich. Den endlos fließenden Strom der Menschheit in der endlosen Zeit. Er sah die Mühsal der Menschen und – ihre Liebe. Die Seele wurde ihm weit. Nur einen Augenblick lang. Denn gleichzeitig packte ihn ein gewaltiger Schrecken. Er schwebte zwischen zwei Welten. Er merkte, dass er sein eigenes Spiegelbild hinter der Theke anstarrte: Schweiß glänzte auf seinen Schläfen, sein Gesicht war verzerrt. Das eingekniffene linke Auge schien sich in die Vergangenheit zu bohren, während das rechte weit aufgerissen und furchtsam in eine Zukunft voller Finsternis, Verfehlung und Zerstörung starrte. Und er schwebte zwischen Licht und Finsternis, zwischen Glauben und bitterer Ironie. Mit einem Ruck wandte er sich ab.
»Louis!«, rief er. »Louis! Louis!«
Wieder keine Antwort. Aber – heilige Muttergottes! – er hatte doch nicht den Verstand verloren? Wie konnte ihn das Entsetzen so vollkommen bezwingen – ohne einen bestimmten Grund? Sollte er hier stehen bleiben wie ein hysterisches Weib? Oder würde er sich endlich zusammenreißen und Vernunft annehmen? Er hatte ja nicht den Verstand verloren! Biff hielt sein Taschentuch unter den Wasserhahn und betupfte sich das verkrampfte Gesicht. Dabei fiel ihm ein, dass die Markise noch nicht eingezogen war. Während er zur Tür ging, fühlte er sich wieder sicherer auf den Beinen, und als er ins Lokal zurückkam, war er so weit, dass er gelassen dem neuen Tag entgegensah.
RICHARD WRIGHT
Geistige Landschaft
Aus der Tradition der Stilexperimente Gertrude Steins und der knappen, gedrängten Prosa Sherwood Andersons und Hemingways geht Carson McCullers’ Das Herz ist ein einsamer Jäger hervor. Mit der Wirtschaftskrise als düsterem Hintergrund zeichnet dieser erste Roman ein trübes Landschaftsbild des amerikanischen Bewusstseins jenseits der Mason-Dixon-Linie* [* Die Grenze zwischen Pennsylvania und Maryland; vor der Abschaffung der Sklaverei volkstümlich als Demarkationslinie zwischen den freien Staaten und den Sklavenstaaten betrachtet.]. Carson McCullers’ Schilderung von Einsamkeit, Tod, Unfall, Geisteskrankheit, Angst, Massengewalttätigkeit und -terror ist die trostloseste, die je aus dem Süden kam. Ihr Gefühl für Verzweiflung ist einzigartig und individuell; es kommt mir natürlicher und echter vor als das Faulkners. Ihre im Dunkeln tappenden Charaktere leben in einer noch endgültiger verlorenen Welt, als je ein Sherwood Anderson sich hätte träumen lassen. Und sie erzählt von Todesfällen und Fällen von Stoizismus in Sätzen, deren Kühle Hemingways kurz angebundene Prosa im Vergleich dazu warm und mitfühlend erscheinen lässt. Über ihrer Schilderung der Einsamkeit
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