Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
als ihr Papa kam, schob er sie aus dem Zimmer. Sie war weggerannt. Nach diesem Schock konnte sie nicht stillhalten. Sie war in die Dunkelheit hinausgerannt und hatte sich selber mit den Fäusten geschlagen. In der nächsten Nacht lag er im Wohnzimmer im Sarg. Der Mann vom Beerdigungsinstitut hatte sein Gesicht mit Rouge und Lippenstift zurechtgemacht, damit er natürlich aussähe. Er sah aber nicht natürlich aus. Er war ganz tot. Durch den Blumenduft hindurch spürte sie diesen anderen Geruch, sie konnte nicht in dem Zimmer bleiben. Aber sie war doch jeden Tag von morgens bis abends im Geschäft gewesen. Sie wickelte Päckchen ein, reichte sie über den Ladentisch und ließ das Geld in die Kasse klingeln. Sie ging, wenn sie gehen sollte, und sie aß, wenn sie zu Tisch saß. Nur schlafen konnte sie in der ersten Zeit nicht, wenn sie abends zu Bett ging. Aber mittlerweile schlief sie wieder, wie’s sich gehörte.
Mick setzte sich ein wenig seitlich und schlug die Beine übereinander. Sie hatte eine Laufmasche im Strumpf. Sie hatte sie bemerkt, als sie zur Arbeit ging, und hatte etwas Spucke darauf getan. Später war die Masche weitergelaufen, und sie hatte sie mit einem Stückchen Kaugummi zugeklebt. Aber auch das half nichts. Nun würde sie den Strumpf zu Haus nähen müssen. Seidenstrümpfe waren ein schwieriges Problem. Sie zerriss sie so schnell. Und sie wollte nicht Baumwollstrümpfe tragen wie die gewöhnlichen Mädchen.
Sie hätte nicht herkommen sollen. Ihre Schuhsohlen waren völlig durchgelaufen. Sie hätte sich die zwanzig Cent für ein Paar neue Sohlen aufheben sollen. Denn was würde passieren, wenn sie weiter den ganzen Tag in durchlöcherten Schuhen rumstehen musste? Sie würde eine Blase am Fuß bekommen. Die müsste sie mit einer ausgeglühten Nadel aufstechen, sie müsste zu Hause bleiben, und Woolworth würde sie entlassen. Und was dann?
»Bitte schön«, sagte Mister Brannon. »Aber so ’ne Kombination ist mir ja noch nie untergekommen.«
Er stellte Eis und Bier auf den Tisch. Sie tat so, als machte sie die Fingernägel sauber; denn wenn sie ihn irgendwie beachtete, würde er ein Gespräch anfangen. Er war nicht mehr so brummig zu ihr, vielleicht hatte er das Päckchen Kaugummi doch vergessen.
Jetzt wollte er sich ständig mit ihr unterhalten. Aber sie wollte ihre Ruhe haben und allein sein. Das Eis war in Ordnung, mit viel Schokolade, Nüssen und Kirschen darauf. Und das Bier entspannte so schön. Nach dem Eis schmeckte es angenehm bitter, und es machte sie betrunken. Bier war fast so gut wie Musik. Aber nun war keine Musik mehr in ihrem Kopf. Komisch. Als wäre sie aus ihrer inneren Welt ausgeschlossen worden. Manchmal kam eine kurze, kleine Melodie, kam und ging wieder – aber sie zog sich nicht mehr wie früher mit der Musik in ihre innere Welt zurück. Vielleicht war sie zu aufgeregt dazu. Vielleicht brauchte sie auch ihre ganze Kraft und Zeit für das Geschäft. Woolworth war etwas anderes als die Schule. Wenn sie früher aus der Schule nach Hause kam, fühlte sie sich wohl und konnte gleich mit der Arbeit an der Musik anfangen. Jetzt war sie immer müde. Zu Hause aß sie nur Abendbrot, schlief, frühstückte und machte sich wieder auf den Weg zum Geschäft. Vor zwei Monaten hatte sie in ihrem Notenheft ein Lied angefangen – es war immer noch nicht fertig. Sie wäre so gern in ihre innere Welt hineingegangen, aber sie wusste nicht, wie. Es war, als wäre ihr die innere Welt verschlossen. Sehr schwer zu verstehen war das.
Mick rieb mit dem Daumen an ihrem abgebrochenen Vorderzahn. Immerhin hatte sie Mister Singers Radio. Die Raten waren noch nicht alle bezahlt gewesen, und sie hatte die Abzahlung übernommen. Es war gut, etwas zu haben, was ihm gehört hatte. Vielleicht würde sie eines Tages ein bisschen Geld beiseitelegen können, um ein gebrauchtes Klavier zu kaufen. Ungefähr zwei Dollar die Woche. Aber auf ihrem Klavier dürfte niemand spielen außer ihr – höchstens George würde sie ein paar kleine Stücke beibringen. Es müsste im Hinterzimmer stehen, und sie würde jeden Abend darauf spielen. Und sonntags den ganzen Tag. Wenn sie aber einmal eine Woche die Rate nicht zahlen konnte – was dann? Würden sie es dann abholen wie das kleine rote Fahrrad? Und wenn sie es sich einfach nicht wegnehmen ließ? Wenn sie das Klavier im Keller versteckte? Vielleicht würde sie ihnen auch den Weg versperren und ihr Klavier verteidigen. Sie würde die beiden Männer fertigmachen, und
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