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Das Herz ist eine miese Gegend

Das Herz ist eine miese Gegend

Titel: Das Herz ist eine miese Gegend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thommie Bayer
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Stück noch«. Wurde die Frist auch nur um Sekunden überschritten, dann merkte man spätestens an den überraschenden Würgelauten des Sängers, daß der Vater leise ins Zimmer geschlichen war und den Stecker gezogen hatte. Der Vater liebte Pünktlichkeit.
    Und Giovanni liebte ein Lied. Es hatte ihn verzaubert, hatte schon beim ersten Hören sein Unterstes nach oben gekehrt und sofort den gehüteten Geheimplatz, der bislang für Hirngespinste reserviert gewesen war, in seinem Innern belegt. Es war von den Beatles und hieß »Norwegian Wood«. Es war genau zwei Minuten und zwei Sekunden lang, also reichte eine Stunde Gartenarbeit für dreizehnmal Norwegian Wood. Wenn Giovanni den Tonarm immer wieder schnell genug aufsetzte. Und wenn nicht Arno überraschend zurückkam.
    Bäuchlings lag Giovanni dann vor dem Plattenspieler, das Ohr möglichst dicht am kratzigen Bezug des Lautsprechers, und genoß dieses Gefühl von Raum, Bewegung und Glanz, das aus dem Lied kam. Es war wie Weinen, nur nicht mit den Augen. Und wie Fliegen, nur nicht in der Luft.
    Seltsam: immer wenn etwas sehr Schönes in sein Leben kam, verlor er ein Fahrrad. Als Arno in England gewesen war, hatte Giovanni dessen Fahrrad benutzen dürfen. Das hätte Arno zwar nie freiwillig zugelassen, aber die Mutter verlangte vom Vater, daß er Arno dazu zwang. Nun war das Fahrrad wieder passe, aber dafür war Norwegian Wood erschienen. Wollte das Schicksal jedesmal ein Fahrrad von ihm haben? Als Preis? Eins für Bo, eins für das Weinen ohne Augen?
    »Klau dir doch selber eins«, hatte Bo ihm vorgeschlagen, aber das kam nicht in Frage. Zwar hätte sich Giovanni berechtigt gefühlt - die Welt war ihm ein Fahrrad schuldig -, aber wie hätte er seinen Eltern erklären sollen, woher es kam?
    »Ich hab’s dir geschenkt, du Säftel«, hatte Bo auf diesen Einwand geantwortet, aber Giovanni brachte einfach nicht den Mut auf.
    Er verdiente sich lieber das Geld. Zwar hatten die Eltern zunächst Bedenken gehabt, den Vierzehnjährigen morgens um vier in einer Backstube arbeiten zu lassen, aber er war gut in der Schule, und daß er eigenes Geld verdienen würde, gab den Ausschlag für die Zustimmung. Der Vater liebte eigenes Geld.
    Einsfünfzig bekam Giovanni in der Stunde, ein Frühstück und zwei Brötchen für die Pause. Noch einen Monat, dann würde das Gesparte für ein neues Fahrrad reichen. Wenn er nicht zu viele Schallplatten kaufte.
    Es hatte nicht geklappt, im Musikunterricht die Beatles, Kinks und Rolling Stones durchzusetzen. Der Musiklehrer hielt sich für modern genug, wenn er das Golden Gate Quartet »Joshua hit the battle ofJericho« singen ließ oder den Christensong »Danke« kompositorisch analysierte. Aber in Englisch war es gelungen, der Lehrerin, die immer einen Blusenknopf zuviel geöffnet hatte, die Texte als Lehrmittel einzureden. Von »Yesterday« und »As Tears Go By« waren die Erwachsenen sowieso leicht zu überzeugen gewesen, denn da waren ja Geigen zu hören. Mit Hilfe von Geigen konnten die Erwachsenen gute Musik von schlechter unterscheiden. Das hatte sogar bei Giovannis Vater geklappt. Bei Bos allerdings nicht.
    Der liebte Zarah Leander und Marschmusik. Und die mußte von Blechbläsern gespielt sein. Den einen oder anderen Wiener Walzer gönnte er sich wohl, aber nur im Hinblick auf dessen Funktion, beschwingtes Tanzen zu ermöglichen. Und etwas enthielten diese Walzer auch vom Abglanz der imposanten alten Welt vor neunzehnhundertvierzehn.
    Leider währte die neue Errungenschaft im Englischunterricht nicht lange. Als nämlich »As Tears Go By« dran war und die Lehrerin nach der richtigen Übersetzung des Titels fragte, sagte Roger, der Rotblonde, den man seit einem Jahr nur noch Ilse nannte: »Wenn Tiere vorbeigehn«.
    Diese Albernheit allein hätte sicher nicht ausgereicht, die Beatmusik aus dem Klassenzimmer zu verbannen, hätte nicht Giovanni noch hinterhergeplappert: »Arschtiere gehn vorbei«. Humor hatte man ja, aber Fäkalausdrucken mußte mit Strenge begegnet werden. Frau Lohr holte den Schulpolizisten, einen durch und durch grauen, schlabbergesichtigen Lehrer namens Winkler, der Giovanni drei Stunden Schulhof-Fegen aufbrummte und mit drohendem Gesicht sagte: »Das kommt vor die Lehrerkonferenz.«
     
    »Du bist wieder aufgefallen«, würde der Vater dann am Mittagstisch sagen, und das bedeutete im allgemeinen zwei bis drei Stunden Gartenarbeit ohne Plattenspieler. In diesem Fall wohl mindestens sechs.
    Herr Winkler war ein Mensch,

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