Das Herz ist eine miese Gegend
Gäste, denn eigentlich hatte der Umzug schon am Ende der großen Ferien stattfinden sollen. Da bis dahin aber weder Fenster noch Türen im Haus waren, mußte die Familie bis zu den Herbstferien warten. Auf einmal fühlte sich Giovanni allein. Inmitten seiner Klassenkameraden, mit denen er fast sechs Jahre seines Lebens zusammengewesen war, hatte er dasselbe Gefühl wie mit Martin im Keller. Fast so, als sei er nicht mehr da. Wenn ein Lehrer seinen Namen sagte, hörte er nicht hin. Ich heiße Giovanni, dachte er, nicht mehr Paul. Giovanni, so hieß der Verfasser der Don Camillo-Geschichten. Giovanni Guareschi. Und seit der Sache mit der Maus schien es Giovanni, als brauche er einen anderen Namen. Einen Decknamen. Bis jetzt war Zelko nicht nachgekommen, und obwohl die Erinnerung an die Bisse fast noch körperlich schmerzte, fing Giovanni an, mit freundschaftlichen Gefühlen an seinen Peiniger zu denken. Der Mäuserich war vielleicht auch einsam. So einsam wie er. Der einsame Mäuserächer. In einer Lücke zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten. Giovanni lebte in einer Lücke zwischen der Schule, die er bald verlassen würde, und der, in die er im Herbst käme.
Ob Zelko ihn suchte? Manchmal zuckte Giovanni innerlich zusammen, denn er hatte das Gefühl, jetzt, jetzt sofort müsse ein Biß in ihn fahren. Aber der Biß kam nie. Einmal schnitt er sich beim Schnitzen ins Bein und war sich so sicher, die Maus sei wieder da, daß er erst nach einigen Fragen ins Leere das warme Blut an seiner Haut spürte. Als er begriff, daß es nur ein Schnitt war, fühlte er so etwas wie Enttäuschung in sich aufsteigen. Er hatte sich, trotz des Schmerzes, gefreut.
Endlich zog die Familie um, und von dem Augenblick an, da er aus dem Lastwagen stieg, war Giovanni gespannt, voll Hoffnung und Angst zugleich. Jeden Millimeter seiner Haut fühlte er, wie er nie zuvor gefühlt hatte. Jedes Haar, jede Pore wußte er ausgeliefert. Unsichtbar und von überall konnte der Biß eintreffen. Doch nach einigen Tagen erlahmte die Anspannung, und die Maus, bei der Giovanni alles wiedergutmachen wollte, mit der er sich sogar insgeheim anzufreunden hoffte, auf deren Erscheinen er wartete, wie er noch auf nichts in seinem Leben gewartet hatte, diese Maus kam nie wieder.
Je mehr der Alarmzustand, in dem Giovanni sich befand, nachließ, desto mehr bekam er wieder Augen für die Welt um sich. Das neue Haus hatte zwei Klinkerwände an den Giebelseiten, eine Pergola hangaufwärts und hangabwärts einen Balkon, über den der Weg zur Eingangstür führte. Fließendes Wasser gab es noch nicht, denn das, was später einmal die Straße werden sollte, lag noch als gähnender Schlund unterhalb der Dreckhaufen, die dann der Garten sein würden. Noch baggerten die Arbeiter in dem Schlund und verlegten Rohre, Kabel und Gullis. Entlang der Straße abwärts war alles noch grün, und aufwärts standen schon fertige Häuser. In einem davon wusch sich die Familie, ging der Reihe nach aufs Klo und holte Wasser in Eimern, um Kaffee und Suppe zu kochen.
Aufregend Neues begann. Jeder hatte von jetzt an sein eigenes Zimmer, so daß Giovanni endlich nicht mehr bei Norbert schlafen mußte, mit dem ihn nichts verband. Norbert war sechs Jahre älter, las Karl May-Bücher zum dritten und vierten Mal und ignorierte Giovanni. Arno war nur ein Jahr älter, übersah ihn aber um so entschiedener. Ein geringeres Alter schien eine Schande zu sein. Man hatte nicht mitzureden, sich überhaupt nicht zu mucksen, und tat man es doch, dann war man lästig. Während Norbert ihm wenigstens manchmal noch ein Buch lieh oder einen Gummiflicken für den Fahrradschlauch, lehnte es Arno sogar ab, auf Fragen, wie die, ob er den Salat herüberreichen könne, auch nur zu reagieren. Früher hatte er Giovanni auf dem Schulweg abgehängt, indem er schneller ging, als dieser mithalten konnte. Das war jetzt, seit Giovanni sein eigenes Fahrrad besaß, kein Problem mehr. Er freute sich auf den ersten Schultag.
Als es endlich soweit war, hatte Giovanni schon drei Varianten des Schulwegs erforscht. Die Strecke mit nur einer Ampel wollte er jetzt freihändig fahren. Er rechnete sich eine fünfzigprozentige Chance aus, daß die Ampel grün sein würde. Sie stand aber auf Rot, und als er das Rad in den Ständer am Pausenhof stellte, bemerkte er, daß der Schlüssel zu dem alten Steckschloß fehlte. Das fing ja gut an.
Neben ihm tobten einige Jungs und warfen sich gegenseitig die Schultaschen an die
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