Das Herz kennt die Wahrheit
sie. Ihr Raum lag gleich daneben. Sie lächelte dem kleinen Hausmädchen zu, das soeben aus der Tür trat. "Libby, das ist unser Gast Gryf."
"Willkommen, Sir." Auch die Dienstmagd war offenbar nicht in der Lage, die Augen vom Gesicht dieses Mannes zu wenden. "Lasst es mich wissen, wenn Ihr irgendetwas benötigt."
"Danke, Libby." Falls Gryf die durchdringenden Blicke des Hausmädchens bemerkt hatte, so ließ er es sich nicht anmerken. Vermutlich war er einfach zu erschöpft. Oder vielleicht waren seine Gedanken allein bei dem Jungen.
Darcy blieb auf der Schwelle stehen, als Gryf den Raum betrat und sich umschaute; sein Blick fiel auf das gemütliche Bett, dann auf das Nachttischchen, auf dem eine Schüssel und ein einladender Krug mit dampfendem Wasser standen.
Es war offensichtlich das Zimmer eines Seemanns. Auf dem Schreibtisch lagen immer noch unzählige Seekarten. An einer Seite des Raumes stand eine Seekiste, und an den Wänden hingen verschiedenartige Überreste alter Segelschiffe.
Darcy lächelte, als sie Gryfs Blicken folgte. "James konnte nie widerstehen, alles mit nach Hause zu bringen, was an Land gespült wurde. Dies waren seine Schätze. Sie kommen aus der ganzen Welt und übten eine besondere Faszination auf ihn aus. Selbst als er noch sehr jung war, ging er schon die Küste entlang und hob Treibgut von untergegangenen Schiffen auf. Oft sagte er, er würde eines Tages um die Welt segeln und Schätze aus jedem Land, das er besuchte, mitbringen."
"Konnte er seinen Traum verwirklichen?"
Sie verneinte mit einem Kopfschütteln. "Er starb viel zu jung."
Die Worte waren gerade aus ihrem Mund heraus, als ihr bewusst wurde, was sie gesagt hatte. Sie dachte an den Jungen, der um sein Leben kämpfte, und spürte eine entsetzliche Angst. Der Tod war in diesem Haus keine ferne Sorge. Seine kalte und harte Realität war jedem nur zu gut bekannt, der innerhalb dieser Mauern lebte.
Gryf bemerkte, wie Darcy plötzlich erbleichte, und trat auf sie zu. Er nahm ihre Hand und schaute sie dann erstaunt an. "Du frierst ja."
"Ich habe …", sie schüttelte den Kopf, "… bloß Angst."
"Bitte, Darcy." Er nahm sie in die Arme. "Belaste dich nicht mit den Dingen, die nicht in deiner Macht stehen. Du musst zuversichtlich sein."
"Ja." Sie löste sich von ihm und machte einen Schritt zurück, wobei sie mit einem Kopfnicken auf den Schrank deutete. "Die Kleidung meines Bruders ist immer noch darin. Ich bin sicher, dass dir einiges davon passen wird."
"Du hast nichts dagegen?"
Sie schüttelte den Kopf. "Es würde mir gefallen. Uns allen, wenn du sie gebrauchen kannst."
Rasch kehrte sie sich ab und begab sich in ihr Zimmer, wo Libby bereits einen Zuber aufgestellt hatte.
Seufzend entledigte Darcy sich ihrer Kleidung und sank in das warme, duftende Wasser. Sonst wäre sie nach einer solchen Seereise versucht gewesen, länger als eine Stunde in dem Bad zu verweilen, um sich den Schmutz der Reise vom Körper zu waschen und die Wärme langsam in sich aufzunehmen. Doch jetzt dachte sie nicht an ihre eigene Behaglichkeit, sondern nur an Whit. Er musste es schaffen. Um zu überleben. Um zu leben. Er durfte seinen grausamen, herzlosen Vater nicht obsiegen lassen.
Schnell schrubbte sie sich ab und wusch sich die Haare, ehe sie wieder aus dem Zuber stieg und sich mit einem dicken Handtuch trockenrieb. Sie zog ein Kleid aus blassrosa Wolle an und bürstete ihr wirres, feuchtes Haar, das sich in Locken um ihr Gesicht ringelte. Dann schlüpfte sie in Schuhe aus Ziegenleder, warf sich ein Tuch über die Schultern und eilte aus dem Zimmer. So schnell wie möglich wollte sie wieder an Whits Seite sein.
Gryf war bereits dort und saß auf einem Stuhl, den er neben das Bett gezogen hatte. Für einen Augenblick erschrak sie, als sie ihn in der Kleidung ihres Bruders sah. Er hatte breitere Schultern als James, und das Hemd spannte über seiner kraftvollen Brust. In seinem dunklen Haar und dem dichten Bart glitzerten noch kleine Wassertropfen von einem schnellen Bad. Er hielt Whits Hand und sprach mit leiser Stimme beruhigend auf ihn ein, voller Hoffnung, er möge ihn hören.
"Komm, Whit. Halte durch, Junge. Wir sind alle da. Bleib bei uns, Whit. Kämpfe, Junge."
An der anderen Seite des Bettes kniete Winifred Mellon und hielt ein kühles Tuch an Whits Stirn.
"Ich mach' das, Winnie." Darcy nahm ihrem alten Kindermädchen das Tuch ab und half ihr beim Aufstehen. "Du brauchst deinen Schlaf."
Die alte Frau musterte sie in dem flackernden
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