Das Herz meines Feindes
mit kleinlauter, leiser Stimme.
Als keine Antwort von ihm kam, sah sie vorsichtig zu ihm auf. Er hatte sich nicht bewegt. Keinen Zentimeter. Er starrte sie nur an, als ob er Mühe hätte, zu verstehen, was für eine Frau er da geheiratet hatte.
»Ich gestehe, dass du mich beständig verblüffst, Lilliane.« Au s nahmsweise schien er die Situation einmal nicht unter Kontrolle zu haben. »Was meinst du damit? Soll ich nun ge hen oder bleiben?«
Sie konnte einfach nicht glauben, dass er Orrick tatsächlich verlassen würde, wenn sie es verlangte. Sie war sicher, dass er das niemals tun würde. Doch vielleicht bezog sich seine Frage auf ihre Ehe. Doch was es auch war, es war tröstlich zu wissen, dass er erfahren wollte, wie sie wirklich empfand.
Als sie noch um Worte rang, fuhr er sich mit den Händen durchs Haar und seufzte müde. »Wirst du mir zumindest ei ne aufrichtige Antwort geben? Du brauchst keine Bestrafung zu befürchten.«
»Ich fühle mich so… so allein«, bekannte sie leise.
»Allein? Beim Barte Gottes, aber wir sind doch Tag und Nacht von Menschen umgeben! Von Dienern und Gefolgs leuten. Und von unerwünschten Gästen.«
»Das meine ich nicht«, unterbrach sie ihn leise. Ihre Ner ven waren zum Zerreißen gespannt, und sie begann unruhig in dem kleinen Zimmer umherz u laufen. »Ich spüre die Bela stung der vergangenen Wochen hier auf dem Schloss eben falls. Aber trotzdem bin ich allein. Ich weiß nicht…« Traurig schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß nicht, was du von mir er wartest.«
Er schwieg einen Augenblick lang. »Aber willst du nun, dass ich gehe oder dass ich bleibe?« fragte er noch einmal, diesmal mit ruhiger Stimme.
Das leise Grollen in seiner Stimme schien eine Saite in ih rem Inneren zum Klingen zu bringen, und sie erschauerte. Sie kannte ihre Antwort. Es war töricht von ihr, etwas anderes vorzugeben.
»Ich will, dass du bleibst«, bekannte sie und warf ihm ei nen vo r sichtigen Blick zu. Als sein Blick sich aufhellte, fuhr sie eilig fort. »Aber wir können nicht so weitermachen wie bisher. Es muss sich etwas ändern.«
Corbett nickte bedächtig und hielt seine rauchgrauen Au gen g e dankenvoll auf sie gerichtet. »Vielleicht…«, begann er. Dann lächelte er, und sie hatte das Gefühl, dass plötzlich die Sonne aufg e gangen sei. »Ich muss bald nach London reisen. Würdest du Orrick verlassen, um mich auf der Reise zu begleiten?«
»Orrick verlassen?« Lilliane war vollkommen überrascht.
»Dünn wird für die Verteidigung sorgen. Ferga wird das Baby betreuen. Magda wird alles andere regeln. Orrick wird unsere Abwesenheit überleben, Lily.«
»Das bezweifle ich nicht«, bekannte sie, und ein vorsichti ges Lächeln spielte um ihre Lippen.
»Bezweifelst du dann die Ernsthaftigkeit meiner Einla dung?«
Lilliane antwortete nicht. Vielleicht war eine Luf t verände rung gut für sie, denn wenn sie dem Alltag auf Orrick – und der sie bedrückenden Anwesenheit von William und Dünn den Rücken kehrten, konnten sie ein paar ihrer Probleme vielleicht tatsächlich in den Griff bekommen.
»Aber warum so weit weg? Warum London?«
15
London war ebenso faszinierend wie erschreckend. Lilliane staunte über die zahlreichen riesigen Gebäude, die sich am Ufer der Themse zusamme n drängten und die grüne Land schaft sprenkelten. Sie war sprachlos angesichts der Unmen gen von Menschen, die ständig in Bewegung waren und ih rer Umgebung vollkommen gleichgültig gegenüberz u stehen schienen. Ihre Nase kräuselte sich angesichts des heftigen Gestanks nach Rauch – und Schmutzwasser –, aber selbst das konnte ihre Begeisterung nicht mindern.
Die Reise war ihr wie ein Wunder vorgekommen, denn hinter der Abtei von Burgram begann für sie eine unbekannte Welt. Während der ersten beiden Tage waren sie der alten Straße durch den Hain von Pennine gefolgt. Die mit Neu schnee bedeckten Berge sahen wundervoll aus. Aber als sie in die Midlands hinabritten, wurde der Schnee von Schlamm und Nieselregen abgelöst, und sie kamen nur mühsam vor an. Doch jeder Tag brachte neue Orte, andere Menschen und die langsam dämmernde Erkenntnis, wie groß die Welt in Wirklichkeit war.
Jede Nacht suchten sie Schutz in Schlössern am Weges rand, die dem neuen Herrn von Orrick und seiner Gemah lin nur zu gern ihre Gastfreundschaft gewährten. Die Erin nerung an die vielen Schlösser und die zahlreichen Schlossherren und Schlosshe r rinnen, die sie getroffen hatte, begannen sich in ihrer Erinnerung
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