Das Herz meines Feindes
deutlicher gewor den war. Ihr Herz war gegen diesen grimmigen, kriegeri schen Ehemann an ihrer Seite nicht länger von einem Schutzwall umgeben. Trotz des scharfen Windes und der feuchten, durchdringenden Kälte fühlte sie sich geborgen und glücklich, als sie an Corbetts Seite das Bischofstor durchritt.
Lilliane hatte nicht darüber nachgedacht, wie sie in London wohl untergebracht sein würden; sie wusste, dass Corbett sich um diese Einzelheiten kümmern würde, so wie er sich um andere Details ihrer Reise ebenfalls gekümmert hatte. Doch sie war nicht darauf vorb e reitet gewesen, dass sie in ei nem eindrucksvo l len Gebäudekomplex, der den White To wer umgab, wohnen würden.
Als sie in den Hof hinein gewunken und dann von einem vollstä n digen Bataillon eifriger Gefolgsleute willkommen ge heißen wurden, war sie sprachlos vor Überraschung. Sie wusste kaum etwas von der Welt und wenig mehr von England und der englischen Politik. Doch selbst sie wusste, dass der Tower die Residenz des Königs war. Und ausgerechnet an einem solchen Ort wurde ihr Gatte mit Gehorsam und aufmerksamem Respekt begrüßt. Die Gefolg s leute schienen beinahe um die Ehre wettzueifern, ihm dienen zu dürfen.
Corbett bewältigte das alles spielend, als ob er an solche Aufmer k samkeit geradezu gewöhnt wäre. Als jedoch ein Mann in reich geschmückter Uniform sich anschickte, Lillia ne beim Absitzen zu helfen, hielt er den Mann mit einer schnellen Geste davon ab. Dann hob er seine Hände zu ihr hinauf und wartete geduldig mit einem Lächeln um seine fe sten Lippen.
In Lillianes Augen war er der bestaussehendste aller Män ner. Die üble Narbe, die sie bei ihrem ersten Anblick so sehr erschrocken hatte, machte ihn nun nur noch männlicher und anziehender. Sie wusste, dass er schon rein körperlich jedem überlegen war; seine Arme und Schultern bestanden aus kräftigen, eisenharten Muskeln, und sein Rücken und seine Beine waren gleichermaßen durchtrainiert. Aber jetzt, da sie sah, wie viel Respekt ihm entgegengebracht wurde, wusste sie, dass seine Macht weit über seine Geschicklichkeit im Kampf hinausging. Die B e zeichnung ›Lockvogel des Königs‹ hatte er zwar aufgrund seiner Verdienste auf dem Schlachtfeld erhalten, aber es war offensichtlich, dass er die gleiche Rolle auch hier, inmitten der Regierung Englands, bekleide te.
Langsam legte sie ihre Hände in die seinen, aber ihr Ge sicht hatte seinen fragenden Ausdruck verloren und war ernster geworden. Als ob sie nicht mehr wöge als ein Kätz chen, stellte er sie auf den Boden, aber er entfernte seine Hände nicht von ihrer Taille. Seine Augen waren halb amüsiert, halb neugierig, als er aus seiner luftigen Höhe auf sie herabblickte. Lilliane kam der Gedanke, dass sie rein gar nichts über den Grund wusste, warum sie nach London ge reist waren, denn er war all ihren Fragen geschickt ausgewichen. Er war ihr auf so vielerlei Weise ein Buch mit sieben Siegeln.
Dann unterbrach er ihre ernsten Gedanken durch einen schnellen Kuss auf ihren Mund. »Ich kann ja verstehen, dass du beim Anblick Londons mit all seiner Schönheit und all seinem Schmutz ins Staunen gerätst. Aber warum staunst du jetzt so offensichtlich auch über mich? Sind mir denn plötzlich Hörner gewachsen?«
Ohne nachzudenken fuhr Lilliane mit der Hand hinauf zu seinem vom Wind zerzausten Haar und glättete die raben schwarzen Locken. »Nein.« Sie lächelte gequält. »Alles ande re als Hörner. Es ist nur…« Ihre Wangen wurden von einer heißen Röte überzogen. »Es ist nur, dass du mir hier so… so anders vorkommst.«
Seine Augen, die vormals so lebhaft und neckisch drein geblickt hatten, wurden bei ihren Worten dunkel und un durchsichtig, und um den Mund herum zeigte sich ein har ter Zug. Er betrachtete einen Augenblick lang den massiven dreistöckigen Turm hinter ihnen, dann kehrte sein Blick zu ihr zurück. »Ich bin hier ein anderer Mann, Lily. Denk immer daran. Ich warne dich noch einmal, nichts zu tun – tatsäch lich sogar nichts über die geringfügigsten Höflichkeiten hin aus zu sagen –, ohne dass ich dir ausdrücklich die Erlaubnis dazu erteile.«
Vorher noch charmant und neckisch, war er nun düster und geheimniskrämerisch geworden, sehr zu Lillianes Be stürzung. Sie war verwirrt und mehr als nur ein wenig verärgert. »Aber ich verstehe nicht…«
»Du musst auch nicht verstehen. Es ist besser so.«
»Warum hast du mich dann hierher gebracht?« brach es vor Enttäuschung aus Lilliane
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