Das Herz meines Feindes
nicht entgehen konnte.
Während dieser kalten, frostigen Tage war er besonders lieben s würdig. Er unterhielt jedermann mit lustigen Ge schichten, Klatsch und erstaunlichen Anekdoten über den Londoner Hof. Während der langen Abende in der durch Fackeln erleuchteten Halle fühlte sich Lilliane erneut an den jungen Mann erinnert, in den sie einst so verliebt gewesen war.
Aber sie war sich des schwärenden Zorns ihres Mannes wohl bewusst.
Am Tage war ihr Mann ein unermüdlich arbe i tender Schlossherr. Er ließ die Schreiner eine Übungsfläche in den Scheunen errichten, damit er und seine Männer auch weiter hin täglich für den Kampf trainieren konnten, egal, was für ein Wetter herrschte. Er untersuchte jeden Winkel des alten Schlosses und fertigte Zeichnungen an, mit deren Hilfe er so wohl die Verteidigungsanlagen als auch den Komfort in dem jahrhundertealten Gemäuer verbessern wollte. Er über prüfte Lord Bartons Rechnungen und sogar, sehr zu ihrer Verärgerung, ihre eigenen Haushaltsbücher, bis er durch und durch vertraut war mit jedem Detail der komplexen Verwaltung von Orrick.
Auf fast jedem Gebiet der Verwaltung des Schlosses nahm er die eine oder andere Veränderung vor, was sie sehr er zürnte. Sie stritten häufig miteinander. Aber unerbittlich be stand er darauf, dass sie ihre Zwistigkeiten niemals in der Öf fentlichkeit austrugen.
Doch das war ein weiteres Problem. Wenn sie ihrem Zorn Luft gemacht hatte, konnte sie es nicht fassen, dass er ihre Wünsche in aller Seelenruhe missachtete und anschließend von ihr verlangte, dass sie in der Nacht bereitwillig zu ihm kam. Allein der Gedanke an seine niemals versagende Fähig keit, ihr mit seinen Küssen den Mund zu verschließen, brachte sie zur Weißglut. Jedes Mal war sie entschlossen, ihm zu widerstehen und ihn von der Bedeutung ihrer eigenen Ansichten zu überzeugen. Doch unweigerlich gab sie wieder nach.
Seine Hände und seine Lippen setzte er ebenso zielstrebig ein wie seine Waffen. Er raubte ihr ihren Willen und unterwarf sie dem seinen. Er blieb immer der Sieger und war au ßerordentlich selbstbewusst, während er Orrick mehr und mehr sein Siegel aufdrückte. Und ihr.
Nur ein einziges Thema brachte ihn aus der Ruhe. Das wurde Lilliane jeden Abend, wenn sich die Schlossbewohner zum Aben d essen niedersetzten, wieder aufs neue klar.
Er war nach wie vor höflich und fürsorglich zu ihr. Bei seinen Männern war er immer zu einem Witz oder einem Trinkspruch bereit. Aber ihre geringste Freundlichkeit Wil liam gegenüber vermochte ihn auf der Stelle zu erzürnen. Die Tage zogen ins Land, und Lilliane konnte seine immer schlechter werdende Laune kaum mehr ertragen. Langsam fing sie an, den Ausbruch zu furchten, der mit Sicherheit be vorstand, wenn sie noch länger ans Schloss gefesselt waren.
Eines Nachmittags schließlich hellte der Himmel wieder auf, und sie entschloss sich sogleich, einen Ausritt zu unter nehmen. Frische Luft und ein harter Galopp waren genau das Richtige, um sich von der Spannung, die sie von allen Seiten spürte, zu befreien.
Als sie im Stall war, überhörte sie das Gemurmel des nervösen Stallknechts, dass sie kein Pferd mitnehmen durfte. Sie führte Aere einfach zu einer niedrigen Bank, damit sie das Tier ohne Hilfe besteigen konnte.
Aber sie konnte Corbetts wütende Erscheinung am Fuße des Pförtnerturmes ebenso wenig ignorieren wie seine schar fen Worte, als er ihr die Zügel aus der Hand riss.
»Wo in Gottes Namen willst du hin?«
Obwohl sie durch seine anmaßende Art verblüfft war, hatte Lilliane schnell eine Antwort parat. »Ich habe vor, Aere und mir einmal so richtig freien Lauf zu lassen. Wir brau chen etwas Abstand von diesem Ort, und wenn es nur für eine Stunde ist.«
»Du darfst nicht gehen.«
Sie hatte geahnt, dass er das sagen würde. Vie l leicht war das der Grund gewesen, warum sie gar nicht erst in Erwägung gezogen hatte, ihn von ihren Plänen zu informieren. Trotzdem war sie überrascht, als er das Pferd umwandte und sie zum Stall zurückzuführen begann.
»Was tust du da? Was erlaubst du dir, du schrec k licher Kerl! Lass mich gehen! Lass mich gehen, sage ich!« Mit die sen Worten versuchte sie, ihm die Zügel zu entreißen. Als sie damit keinen Erfolg hatte, befreite sie ihre Füße aus dem Sattel und schwang sich mit einem sauberen Sprung auf den Boden. Dann begann sie steif, auf das Pförtnerhaus zuzug e hen.
Schon nach fünf Schritten wurde sie rüde heru m gewirbelt und sah ihm direkt
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