Das Herz meines Feindes
hervor. »Ich darf nirgendwo hin gehen und auch mit niemandem reden! Darf ich denn zumindest meine eigenen Gedanken haben?« fügte sie in beißender Ironie hinzu.
Zu ihrer Überraschung hielt er inne, und seine Stimme wurde sanfter.
»Es ist nicht so schlimm, wie du glaubst.« Seine Hände strichen beschwichtigend ihre Arme hinauf. »Und um die Frage zu bean t worten, warum ich dich hergebracht habe: Kannst du mir glauben, dass es einfach nur deshalb ist, weil ich dich in meiner Nähe haben will?«
Gegen eine solche Empfindung konnte man nur schwer lich Ei n wände haben. Doch Lilliane machte sich Sorgen, als Corbett sie in das Gemach führte, das für sie vorbereitet wor den war. So sehr sie ihm auch glauben wollte, sie hatte Angst, dass es vor allem sein Misstrauen William gegenüber gewesen war, dem sie ihre Anwese n heit in London verdankte. Zweifellos hoffte er, dass William Orrick verlassen haben würde, wenn sie zurückkehrten. Tatsächlich hatte sie zum Besten aller genau den gleichen Wunsch. Aber egal, wo William die Wintermonate verbrachte, Lilliane entschloss sich, es nicht zuzula s sen, dass irgend jemand die ersten vorsichtigen Bindungen, die zwischen ihrem rätselhaften Mann und ihr geknüpft wurden, wieder zerstörte. Es war schon schlimm genug, dass Corbett sie zeitweise auf Armeslänge von sich fernhielt. Es war nicht notwendig, dass William die Situation noch zusät z lich verschlimmerte.
Ihr Gemach im Palast des Königs war äußerst beeindruckend. Während die Diener ihre Truhen abstellten, wan derte sie in dem Zimmer mit den dicken Mauern umher und bewunderte das Mobiliar und den Komfort, den es bot. Über einem breiten Kamin, der für die Ewigkeit in Stein gehauen zu sein schien, hatte der alte König Alfred und sein Jagd hund einen Rothirsch von beträchtlichem Ausmaß in die En ge getrieben. Ein farbenfroher Seidenteppich zeigte in etwas wärmeren Tönen, wie Harold gegenüber William dem Er oberer seinen Lehnseid ablegte. König John nahm die Schwüre der Adeligen entgegen, und Richard rottete bei Acre die Heiden aus.
Lilliane war vielleicht nur die Tochter eines unbedeutenden Landedelmannes in den nördlichsten Regionen des eng lischen Königreiches, aber sie hatte den vergnüglichen Ge schichten, die des Abends auf Orrick erzählt wurden, immer mit Freuden gelauscht. Erstaunliche Taten voller Mut und Ehre, blutige Siege auf dem Schlachtfeld und gelegentlich so gar eine Geschichte von alles erduldender Liebe und Loyali tät. Aber nichts, das sie auf Orrick oder sogar in der Abtei von Burgram gesehen hatte, konnte sich mit diesen wunder vollen Reliefs und Stickereien messen, denn sie erweckten die Geschichten, die sie immer schon gefesselt hatten, zum Leben. Selbst in das hohe Holzbett war die Szene eines riesigen Festes eingeschnitzt. Von den Ehrengästen am Kopftisch bis hin zu den jungen Dienstboten und den hungrigen Hun den unter den Tischen, zeichnete es detailg e treu jede Einzel heit eines großen Essens nach.
»Das ist die Krönung König Henrys.«
Lilliane ließ ihre Finger über die Holzoberfläche gleiten und hielt vor dem Abbild des Königs inne. Dann sah sie Corbett neugierig an. »Ich gestehe, dass ich niemals ge glaubt hätte, dass dir solch fürstliche Ehrbezeugungen zuteil werden.«
Corbett schnaubte amüsiert, und sie fuhr noch kühner fort. »Die Diener kennen dich allesamt. Soll man mich denn für eine große Lady halten, weil du mein Gatte bist?«
Ihre letzten Worte brachten Corbetts lässige Haltung ab rupt zum Verschwinden. »Du wirst hofiert werden, und man wird um dich heru m scharwenzeln. Aber nimm das nicht so ernst, Lily.«
»Ich weiß. Ich weiß.« Sie zog eine Grimasse. »Sprich mit niema n dem. Geh nirgends hin.« Sie seufzte und setzte sich gereizt auf das hohe Bett.
Einen Augenblick lang glaubte sie, dass er sich erweichen ließ, denn der Gesichtsausdruck, der über seine Züge glitt, sprach gleicherm a ßen von Belustigung wie Zuneigung. Aber wie mit großer Anstre n gung beherrschte er sein Gesicht wie der und wurde strenger.
»Du solltest meine Anweisungen immer im Gedächtnis behalten«, befahl er ihr. »Jetzt jedenfalls darfst du dich aus ruhen. Ich habe ein Bad für dich vorbereiten lassen, und ich habe nach einer Magd geschickt, die sich um dich kümmern soll.«
»Du gehst?« Lilliane kletterte von dem hohen, bequemen Bett hinunter, aber als sie sein leichtes Stirnrunzeln bemerk te, blieb sie, wo sie war.
»Ich möchte nichts lieber, als
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