Das Herz meines Feindes
bevor sie sich erhob, und abgesehen von der Mittagessenszeit sah sie ihn überhaupt nicht.
Aber er kam jede Nacht zu ihr.
Er war frisch gewaschen. Sein Haar lag in immer noch feuchten Locken auf seinem Nacken, und er roch nach Seife, sauberer Haut und nach Bier.
Lilliane wusste, dass er jede Nacht trank, bevor er kam. Zuerst dachte sie, dass er trank, weil er es nicht ertragen konnte, bei ihr zu liegen, und dass er nur kam, um sich einen Erben zu sichern. Aber seine Zärtlichkeit und Leidenschaft straften diese Überl e gungen Lügen.
Dann dachte sie, dass er trank, um ihr mutmaßl i ches Ver gehen zu vergessen, damit er zu ihr kommen konnte ohne die Erinnerung an seinen schrecklichen Verdacht. Doch die Worte, die er ihr so häufig ins Ohr flüsterte, machten auch diesen Gedanken unwahrscheinlich. »Du gehörst mir, Lily. Nur mir«, sagte er jede Nacht zu ihr, kurz bevor er ganz von ihr Besitz ergriff.
Oh, wie sehr wünschte sie sich doch, dass diese Worte die Wahrheit waren. Mehr als alles auf der Welt wollte sie ihm gehören, auf jede erdenkliche Weise, und ihn für immer zu dem ihren machen. Aber sie befürchtete, dass es nur sein Stolz war, der ihm Worte eingab: Was ihm gehörte, gehörte ihm, und er würde es mit niemandem teilen. Aber das machte sie nicht wirklich zu der seinen. So sehr sie sich auch wünschte, dass sie zusammengehörten, er war derjenige, der es mit seinen Verdächtigungen und Anklagen verhinderte. Doch trotz der furchtb a ren gefühlsmäßigen Kluft zwischen ihnen nahm Lilliane ihn freudig jede Nacht in die Arme.
In der ersten Nacht, da er gekommen war, war sie schon halb eingeschlafen und bemerkte kaum, dass er das Zimmer betrat. Erst als er seine Tunika über die Truhe warf und sich die Stiefel auszog, wurde ihr bewusst, dass sie nicht allein war. Als er schließlich unter ihre Decke gekrochen war, war Lilliane hellwach, und ihr Herz hatte zu rasen begonnen.
Er hatte kurz gezögert, und Lilliane war in einen Strudel der widerstreitenden Gefühle geraten. Es wäre nur logisch gewesen, ihn fortzuschicken – ihn abzuweisen oder zumin dest mit vollkommener Gleichgültigkeit bei ihm zu liegen.
Aber ihr Herz sagte etwas anderes.
Als er schließlich die schwere Webdecke von ihrer Schul ter gezogen hatte und seine Hand langsam über ihren Arm gleiten ließ, hatte ein heftiges Beben von ihr Besitz ergriffen.
»Komm zu mir«, hatte er heiser geflüstert.
Sie war unfähig gewesen, ihm zu widerstehen.
In jener ersten Nacht hatten sie sich grimmig und hem mungslos, auf wilde, fast verzweifelte Weise geliebt. Seitdem hatte ihre Leidenschaft nicht nachgelassen, aber sie liebten sich irgendwie ernster, als ob jede Nacht, die sie beisammen waren, die letzte sein könnte, die sie hatten.
Jeden Morgen war Lilliane wieder mit einer Unmenge widerstr e bender Gefühle erwacht: Sie liebte ihn, und sie wollte ihn; sie hasste ihn dafür, dass er sie auf diese Weise be nutzte; sie war sicher, dass sie vor Scham in den Boden versinken würde, wenn sie ihn beim Mittagessen sah.
Und jeden Morgen hatte sie sich halbherzig g e schworen, dass die Sache so nicht weitergehen konnte. Aber wenn die langen Schatten des Nac h mittags über Orrick lagen, begann sich langsam eine Art Spannung aufzubauen. Die Vorfreude auf ihre Nacht mit ihm zog sich wie ein fiebernder Knoten in ihrem Inneren zusammen, und die Zeit schien sich endlos dahinzuziehen. In der Hitze ihres allumfa s senden Verlan gens nach ihm verschwand jeder Gedanke daran, ihn abzuweisen. Aber den Wunsch, die Angelegenheit zwischen ihnen zu regeln, gab sie niemals auf.
Sie wusste, dass die Minuten, nachdem sie sich geliebt hatten, die entspanntesten und vielleicht damit am geeignetsten waren, um ihn darauf anzusprechen. Sie zerstörte nur un gern die süßen Nachwi r kungen; indem sie das schwierige Thema anschnitt, das sie beide trennte. Aber sie war klug ge nug, um zu wissen, dass auch bei ihr die Wahrscheinlichkeit geringer war, in Wut zu geraten, wenn sie nackt ineinander verschlungen lagen.
Sie versprach sich selbst, dass sie heute nacht die Dinge zwischen ihnen zur Klärung bringen würde, und umarmte die kleine Elyse herzlich. »Süßes Baby, ich hoffe, dass ich dir im Laufe des nächsten Jahres einen kleinen Gefährten schen ke. Es wäre doch eine Schande, wenn das Kinderzimmer nicht mit zufriedenen Babys und lachenden Kindern gefüllt würde.« Durch diese Gedanken gestärkt, stand Lilliane auf und zog sich ihren Mantel über. Dann wickelte
Weitere Kostenlose Bücher