Das Herz meines Feindes
dunklen Schlafgemach wach und fragte sich, was sie ihm sagen sollte und wie sie ihm ein Frie densangebot unterbreiten sollte. Vielleicht sollte sie das Thema ansprechen, bevor sie die Leidenschaft auf ihren Schwin gen davontrug. Vielleicht war sie ja hinterher zu erschöpft, um ihre Worte sorgfältig zu wählen.
Aber wenn sie das Thema zu früh zur Sprache brachte, war er vielleicht zu abgelenkt vom körpe r lichen Verlangen, um ihre Worte wirklich zu hören.
Dieses Dilemma erörterte sie lang und breit mit sich selbst, ohne zu einer Schlussfolgerung zu kommen. Aber nachdem das Feuer bis auf die glühende Asche niedergebrannt war und die einzelne Kerze ausgegangen war, wusste sie, dass er in dieser Nacht nicht zu ihr kommen würde.
War er ihrer überdrüssig geworden? fragte sie sich voller Angst. Hatten die leidenschaftlichen Stunden, die ihr so viel bedeutet hatten, seiner Lust nur eine vorübergehende Er leichterung verschafft? Bei diesem Gedanken zog sich Lillia nes Herz schmerzvoll zusammen. Wenn er nun nicht kam… Sie schloss die Augen, um diesen furchtbaren Gedanken zu verbannen. Aber es war zwecklos. Wenn er heute nacht nicht kam… Wenn er niemals wieder kam?
Sie setzte sich auf und warf die schwere Decke fort. Die Kälte des Raumes schien auf traurige Weise zu ihrer Stim mung zu passen, und einen Augenblick lang war sie ver sucht, wieder in die Wärme ihres Bettes zurückzukriechen. Dort konnte sie ihren Kopf in den Kissen vergraben und sich vor der schreckl i chen Realität ihres Lebens verstecken.
Aber Lilliane bekämpfte diese feige Anwandlung und schwang ihre Füße von dem hohen Bett herunter auf den kalten Steinboden. Sie würde nach ihm suchen. Er war nicht zu ihr gekommen, also würde sie zu ihm gehen. Sie würde ihn finden und ihn davon überzeugen, in ihr Schlafgemach zurückz u kehren, und dann… und dann…
Wie überzeugte man einen misstrauischen Mann davon, einem zu vertrauen? Oder einen gleichgültigen Mann davon, einen zu lieben?
Sie wusste es nicht, aber ihre Furcht vor einer Zukunft oh ne Corbetts Liebe verhinderte, dass sie weiter darüber nachdachte. Sie würde ihn finden, und dann würde sie entscheiden, was sie am besten tun konnte.
Das Schloss lag still. Abgesehen von den verei n zelten Die nern, die auf Binsenmatten vor dem Feuer in der großen Halle schliefen, war kein Lebensze i chen zu entdecken. Es hätte gut und gern das Schloss der schlafenden Prinzessin sein können, mit deren Geschichte ein Minnesänger sie vor langer Zeit unterhalten hatte. Aber heute nacht war es nicht die Prinzessin, die schlief, sondern der Prinz. Und ihre Aufgabe war es, ihn zu finden und kraft ihrer aufrichtigen Liebe sein Herz zum Leben zu erw e cken.
Lilliane war nicht sicher, wo sie mit ihrer Suche beginnen sollte. Corbett konnte überall schlafen: in den Ställen auf einem Stapel süß duftenden Heus, auf einem Bett in den Räu men der Wache. Vielleicht sogar im Burgfried. Sie kaute ent täuscht auf ihrer Lippe und fragte sich, ob ihre Suche nicht vielleicht sogar vergeblich war. Was, wenn sie ihn nicht fand? Was, wenn er wütend wurde und sie von sich fortschickte? Wie konnte sie ihm – oder sonst jemandem – jemals wieder unter die Augen treten, wenn er sie offen zu rückwies?
Sie schauderte, und ein kalter Kloß bildete sich in ihrer Kehle. Diese Gedanken durfte sie nicht haben, sagte sie sich. Sie musste ihn einfach nur finden und sich hinterher erst mit den Folgen ihres Tuns auseinandersetzen. Denn sie wusste, dass sie diesen unsicheren Zustand nicht länger ertragen konnte.
Draußen war der Himmel klar und durch die silberne Mondsichel hell erleuchtet. Die Sterne bevölkerten den Nachthimmel wie funkelnde Edelsteine, die man auf dunkel blauem Samt ausg e breitet hatte. Der Schlosshof bestand nur aus silbernem Licht und ebe n holzschwarzen Schatten. Es war keine Menschenseele zu sehen. Einen Augenblick lang befürchtete sie, dass man sie sehen konnte, denn dann hätte sie ihren nächtlichen Ausflug erklären müssen. Aber dann erinnerte sie sich daran, dass die Gesichter der Wachen nach draußen gerichtet waren. Sie suchten den Feind nicht im In neren des Schlosses.
Trotz ihrer leisen Suche gelang es Lilliane nicht, ihren Mann zu finden. Er war weder in den Ställen, noch in den Küchenräumen oder den Wirtschaft s gebäuden. Die Gäste zimmer waren wie sie sein sollten, sauber und bereit, die Gä ste, die man erwartete, aufzunehmen, aber sie waren leer.
Sie zitterte vor
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