Das Herz meines Feindes
Enttäuschung. Als sie im Schatten vor den Quarti e ren der Soldaten stand, musste sie die Tränen herun terschlucken. Ob sie es wagte, hier einzutreten? Sie machte einen Schritt nach vorn, dann wandte sie sich unentschlos sen ab. Eine solche Handlungsweise verstieß gegen alles, was ihre Mutter sie gelehrt hatte. Aber sie schien doch sowieso nicht in der Lage, sich richtig zu verhalten. Sie hatte ihrem Vater offenen Ungehorsam entg e gengebracht. Sie hat te ihren eigenen Gatten aus seinem Schloss ausgesperrt. Und jetzt kroch sie wie eine Dirne durch die Nacht auf der Suche nach dem Mann, der nichts für sie empfand als gelegentliche Lust.
Lilliane wischte sich zwei heiße Tränen von der Wange, als sie ihren Blick gen Himmel richtete. Lieber Gott, betete sie, als die hellen Sterne vor ihren Augen verschwammen, bitte hilf mir. Dann klärte sich ihr Blick wieder, und sie starr te zur zinnengesäumten Silhouette des Aussichtsturmes hin auf. Dort hatte sich etwas bewegt. Sie blinzelte in dem Versuch, zu erkennen, was es war. War es nur ein Trugbild der Schatten gewesen oder vielleicht auch nur ihre Einbi l dung? Aber dann sah sie es, deutlich: Es war ein Mann, der irgend etwas an seine Lippen hob.
Lillianes Herz machte bei seinem Anblick einen Satz. Cor bett war so nahe gewesen, nur einen Treppenabsatz über ihr, während sie voller Sorgen im Bett gelegen hatte. Ihr kam der Gedanke, dass er diese Einsamkeit ihrer Gesellschaft vorzog. Aber sie weigerte sich, diesen niederschmetternden Gedanken Gehör zu schenken.
Der Aufstieg über die gewundenen Treppen zum Aus sichtsturm kam ihr endlos vor. Doch als sie vor der eisenbe schlagenen Tür stand, zögerte sie. Einen Augenblick lang dachte sie darüber nach, in das sichere Refugium ihres Schlafgemachs zurückz u kehren. Aber andere Empfindungen überwanden die Angst und drängten sie weiter, so dass sie nach kurzem Innehalten die schwere Tür aufschob.
Corbett saß zwischen zwei hohen, spitzen Zinnen. Ein Bein baumelte von seinem unsicheren Sitz herunter. Das andere hatte er als Stütze für seinen Arm angewinkelt. In einer Hand hielt er einen dickbäuchigen Zinnkrug, aber im Au genblick trank er nicht. Er saß nur still da und starrte auf das mondbeschienene Land hinaus.
In diesem Augenblick erkannte Lilliane allzu klar, wie un glücklich ihr Mann war. War er bei seiner Ankunft auf Or rick genauso unglücklich gewesen? Sie wusste es nicht, denn sie war nicht in der Lage gewesen, über den Anblick des mächtigen Ritters – und Feindes – hinauszusehen. Er war der Lockvogel des Königs, und sie war seine Beute gewesen, die er gejagt hatte. Nun, jetzt hatte er sie, aber sein Sieg hatte ihn offensichtlich nicht zufriedener gemacht.
Bei dieser Erkenntnis hätte sie sich am liebsten geschlagen gegeben und die Flucht ergriffen. Ob sie jemals in der Lage sein würde, ihn dazu zu bewegen, etwas für sie zu empfin den? Als sie sein hartes, unbewegliches Profil anstarrte, schien es ihr irgendwie unmöglich zu sein.
Sie wandte sich ab. Ihre Finger waren ungeschickt, als sie versuchte, die Tür wieder zu öffnen. Als Corbett aufsah, schüttelte sie heftig den Kopf, als wolle sie ihn dadurch ver gessen lassen, dass sie hier war, damit er sie mit ihrem gebro chenen Herzen still gehen ließ.
Aber Corbett war so wenig entgegenkommend wie eh und je. Mit einem einzigen Befehl brachte er sie dazu, regungslos stehen zubleiben.
»Komm her.«
Lillianes Herz schien bei seinen Worten ausz u setzen. Mehr als je wünschte sie sich, zu flüchten und sich weitere Demütigungen zu ersparen. Aber sie konnte den Bann, unter den er sie stellte, so leicht nicht brechen. Statt dessen lehnte sie den Kopf gegen die verwitterte Tür, als ob sie ihr Halt ge ben könnte.
»Ich sagte, komm her«, forderte er härter. Diesmal hörte sie, dass seine Stimme vom Wein schleppend geworden war.
Sie gehorchte immer noch nicht, sondern blieb nur wo sie war, ein blasser, schlanker Schatten, dessen zitternde Gestalt sich von dem schwarzen Stein abhob. Als es offensichtlich war, dass sie nicht kommen würde, verließ Corbett die Zin nen und ging zu ihr hinüber. Dann drehte er sie scharf um und presste sie mit dem Rücken gegen die raue Tür.
»Warum bist du hier?« bellte er. »Aber das ist eine törichte Frage, nicht wahr?« Seine Hände packten ihre Arme fester, bevor er sie ganz losließ. Dann stützte er eine Hand gegen die Tür und beugte sich näher zu ihr heran. Sie konnte riechen, dass sein Atem nach
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