Das Herz meines Feindes
Selbstbeherrschung. Dann, als sie energisch die Trep pe hinunterschritt, sprang er die Stufen hinauf; ohne Zweifel, wie sie annahm, um seinen Herrn zu benachrichtigen.
Als sie zur Küche ging, fragte Lilliane sich unwil l kürlich, welche Spekulationen jedermanns Geist beschäftigten. Sie war entschlossen, mit niemandem über diese Angelegenheit zu reden, und die dista n zierte, geschäftsmäßige Art, mit der sie jeden behandelte, hielt alle davon ab, das Thema ihrer Hochzeit anzuschneiden. Trotzdem konnte sie die zahlreichen Blicke, die in ihre Richtung geworfen wurden, nicht ignorieren. Die Blicke, mit denen sowohl Gäste als auch Die ner einen jeden ihrer Schritte beobachteten, waren mitfüh lend oder entrüstet, teilweise sogar offensichtlich neugierig. Fast wäre sie in Tränen ausgebrochen und in ihr Gemach zu rückgekehrt, doch die Aussicht, dass sich ihr Schicksal doch noch zum Guten wenden würde, ließ sie ausharren.
Denn diese Aussicht bestand in der Tat! In den langen Stunden der Nacht hatte sie geplant und Ränke geschmiedet. Jetzt war sie in der Lage, eine ve r gleichsweise heitere Fassa de aufrechtzuerhalten, die selbst so weit ging, dass sie dafür sorgte, dass die letzten Vorbere i tungen für die Hochzeit getroffen wurden, denn sie wusste, sie würde bei dieser Hoch zeit nicht zugegen sein.
Es schien ihr die einzige Möglichkeit zu sein. Sie wusste, dass Odelia und Aldis zornig über Sir Corbetts plötzliches Auftauchen auf Orrick waren. Offensichtlich hatten sie er wartet, die Herrschaft über das Schloss zu übernehmen, da es unwahrscheinlich schien, dass Lilliane noch heiraten würde. Aber die Ankunft Sir Corbetts und seiner beträchtlichen Streitmacht hatte die Situation vollkommen geändert. Trotzdem war Lilliane sicher, dass ihr Schwager nicht stillschweigend zusehen würde, wie Sir Corbett blieb, wenn seine Hei rat mit Lilliane nicht stattfand. Und so kampflustig Sir Corbett auch war, er würde die Mißbilligung nicht riskieren, die die Folge sein würde, wenn er Orrick gewaltsam einnäh me. Selbst der abwesende König Edward würde eine solche Handlungsweise nicht gutheißen.
Mit einem Stirnrunzeln konzentrierte sich Lilliane auf ihre Aufgabe, die Menge der Lebensmittel, die man für das Abendmahl benötigte, zu berechnen. Sie war entschlossen, sich über Sir Corbetts Reaktion auf ihre Flucht keine Sorgen zu machen. Sie spielte keine Rolle. Das einzige, was eine Rol le spielte, war, dass Orrick Castle und die grüne nördliche Hälfte von Windermere Fold ihm nicht so leicht in die Hän de fallen sollte.
Sie konnte immer noch nicht fassen, dass ihr Vater einer solchen Verbindung zugestimmt hatte. Ihr Vater war ein gu ter Herr, der seine Untertanen gerecht behandelte und das Gut mit Umsicht und Klugheit leitete. Einem solch kriegslüsternen Schwiegersohn das Erbe dieses Gutes zu übertragen, konnte nur in Unzufriedenheit und Unruhe münden. Lilliane konnte sich nicht vorstellen, dass Sir Corbett sich der Herrschaft ihres Vaters beugen würde. Genauso wenig konn te sie sich vorstellen, dass Lord Barton bescheiden beiseite trat, um seinem neuen Schwi e gersohn Platz zu machen.
Nein, versicherte sie sich selbst. Eine Heirat zw i schen Orrick und Colchester war ein großer Fehler. Zwischen ihr und Sir Corbett war sie sogar völlig undenkbar.
Mit einem Schnörkel ihrer Feder machte sie eine letzte Notiz in ihrem Haushaltsbuch, dann war diese Aufgabe be endet. Sie hatte ihre Rückkehr in die große Halle bewusst hinausgezögert, bis sie sicher sein konnte, dass alle Ritter ihr Frühstück beendet hatten. Nur einen einzigen Ritter wollte sie ganz bestimmt nicht sehen, aber genau der würde sich vielleicht weiterhin dort aufhalten, um sich davon zu über zeugen, dass sie immer noch auf dem Schloss weilte – und sich immer noch guter Gesundheit erfreute. Aber selbst, wenn er immer noch da war, überlegte sie, so war das für sie nur von Vorteil. Denn wenn er sah, dass sie sich um die Erle digung der täglichen Aufgaben kümmerte, würde das seine Selbstzufriedenheit fördern und damit ihre Flucht erleich tern.
Entschlossen stand sie auf und schüttelte die ausgestellten Röcke ihres ansonsten eng anliegenden Kleides. Der maisfar bene Stoff umspielte sie in üppigen Falten und bildete einen hübschen Kontrast zu dem feinen elfenbeinfarbenen Leinen ihres Unterkleides. Sie war nur mit einem vergoldeten Gür tel geschmückt, den sie um ihre Taille g e schlungen hatte, und mit dem schlichten Netz,
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