Das Herz meines Feindes
steigerte.
Egal, wie sehr sie sich bemühte, zu vergessen, was zwi schen ihnen geschehen war, sie konnte es einfach nicht. Sie war nicht in der Lage gewesen, den dämmrigen Tauben schlag zu verlassen, so erschüttert war sie von den schreckli chen Gefühlen, die er in ihr hervorgerufen hatte. Furcht und Zorn kämpften im Tumult ihrer Gefühle um die Vorherr schaft. Aber schlimmer noch war der schreckliche Verdacht, dass er unglaubliche Macht zu besitzen schien. Schon durch seinen Kuss und seine sanfte Berührung war er in der Lage, sie zu beher r schen. Weder sein Zorn noch seine Drohungen richteten auch nur annähernd so viel Schaden an wie seine Leidenschaft. Sie bebte sogar jetzt noch, wenn sie daran dachte.
Wenn Thomas nicht gewesen wäre, würde sie sich viel leicht jetzt noch bei den Tauben verstecken. Aber er hatte sie entdeckt und ihr mitgeteilt, dass man sie in der Halle brauchte. Seither hatten ihre Schwestern und ihre weiblichen Gäste es ihr nicht erlaubt, ihren Pflichten als Schlossherrin nachzukommen. Statt dessen musste sie die Frauen auf die Falkenjagd begleiten und ein tödlich langes Mahl im Freien zu sich nehmen. Als sie am späten Nachmittag ins Schloss zurückge kehrt waren, waren die Männer noch alle bei der Jagd. Und in diesem Augenblick hatte Lilliane beschlossen, ihre Flucht pläne in die Tat umzusetzen. Sie hielt es für ein außergewöhnlich gutes Omen, als Tullia erwähnte, dass Mutter Grendella, die weise Frau, durch eine Augenkran k heit ans Bett gefesselt war. Lilliane bereitete jetzt einen Korb mit De likatessen vom Hochzeitsfest für die alte Frau vor.
»Wickele einige dieser Pasteten und einen großen Laib Weißbrot in dieses Tuch, und lege die Sachen ebenfalls in den Korb«, sagte Lilliane zu Ferga.
»Du musst doch nicht selbst gehen, Lilliane«, protestierte Tullia. »Genauso gut könnte irgendein Diener mit dem Korb ins Dorf gesandt werden.«
»Tullia, wenn ich in diesem Schloss und in dieser Gesell schaft noch eine Minute länger bleiben muss, dann schwöre ich, fange ich an zu schreien. Es ist schon grausam genug, dass ich diesen schändlichen Ritter, unseren Feind, heiraten muss. Darf ich noch nicht einmal die letzten Stunden meiner Jungfer n schaft so verbringen, wie ich möchte?« Die Tränen, die in ihren großen bernsteinfarbenen Augen standen, waren keineswegs vorgetäuscht.
Tullia war bewegt, als sie die Bitte ihrer Schwester ver nahm, und konnte nicht anders als zustimmen. »Wie du willst, liebe Schwester. Aber bitte, halte dich nicht zu lange auf. Und nimm einen Stallknecht mit.«
Aber Lilliane hatte nicht die Absicht, sich von einem Stall knecht begleiten zu lassen. Sie nutzte die Verwirrung, die durch die Hochzeitsfeierlichkeiten verursacht worden war, ebenso aus wie die Tatsache, dass die Diener viele außeror dentliche Pflichten zu erledigen hatten, und führte eigenhändig ein Pferd aus den Ställen. Als sie sich auf das Ross setzte, verspürte Lilliane ebensoviel Erleichterung wie Bedauern. Sie war nicht sicher, ob sie noch einen Augenblick länger in der Lage gewesen wäre, so zu tun, als ob sie sich in ihr Schicksal füge. Doch genauso wenig konnte sie vorgeben, angesichts der schrecklichen Tat, die sie auszuführen plante, keine Schuldg e fühle zu empfinden. Denn, so verzweifelt sie diese Heirat zu vermeiden suchte, Lilliane wusste sehr gut, dass sie ihrem Vater durch diesen offenen Trotz großes Unrecht tat.
Es war nicht ihre Art, eine ungehorsame Tochter zu sein. Obwohl über ihre lange Abwesenheit von Orrick und die Halsstarrigkeit, mit der sie in der Abtei geblieben war, überall geklatscht wurde, war es nichtsdestotrotz eine Tatsache, dass sie ihrem Vater gehorcht und Sir William nicht geheira tet hatte. Doch der Klatsch beschäftigte sich lieber mit ihrem Eigensinn als mit ihrem letztendlichen Gehorsam.
Aber ihr jetziges Verhalten war nichts anderes als offener Ung e horsam. Ihre Flucht würde nicht nur ihren Bräutigam beschämen, wie es ja auch ihre Absicht war, sondern auch ihren Vater. Einen Augenblick lang, als sie über die schwere Zugbrücke dahinritt, hätte sie ihr Ross fast angehalten. Tat säc h lich begann das empfindliche Tier sogar im Kreis zu tän zeln, bis Lilliane es mit einem sanften Tätscheln am Hals beruhigte.
»Ruhig, Acre. Ruhig, mein Mädchen.« Sie ließ ihre Finger durch die bronzefarbene Mähne der Stute gleiten. »Ich weiß, dass du Angst hast, das Schloss zu verlassen. Genau wie ich«, fügte sie noch leiser
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