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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Opalia und Flint eingeschlafen waren, stand dann auf, entzündete die Lampe und setzte sich wieder an seinen Tisch. Er legte alle Karten, die er für seine Berechnungen brauchen würde — es waren viele — auf einen Stapel, beugte sich dann im blakenden Licht der Lampe über die Tischplatte und machte sich auf die gute alte, solide Art, die ihn die Zunft gelehrt hatte, an die Ausarbeitung seines Plans, indem er seine Tafeln mit Zahlen und Symbolen füllte, die seine bizarre, abwegige Idee genau erläuterten.

14

Die Königin des Alten Volks
    »So elend und unglücklich war der Waisenknabe, dass er sich gegen die Gebote des Himmels ins grüne Meer gestürzt hätte, wäre da nicht ein blinder alter Sklave namens Aristas gewesen ...«
    Der Waisenknabe, sein Leben und Sterben und himmlischer Lohn — ein Buch für Kinder
    Als er aus den Wellen ans Felsufer stieg, stand dort Saqri in ihren weiten weißen Gewändern so ruhig und anmutig wie eine Tempelstatue. Und außerdem ganz trocken. Barrick, dem Meerwasser aus den Kleidern troff, hatte nicht viel Zeit, sich darüber zu wundern, und musste auch die Seewiese, die er so lange nicht gesehen hatte, rasch hinter sich lassen, denn Saqri drehte sich um und machte sich an den Aufstieg zur steinigen Hügelkuppe, wo das königliche Sommerhaus durch die Bäume vage zu erkennen war.
    »Ein paar Dinge lernt man über die Jahrhunderte«, rief die Qarkönigin, als er triefend und mit quatschenden Schuhen hinter ihr hertrottete. »Eins davon ist, nicht nass zu werden, wenn man es nicht will.«
    Er hatte nicht die Kraft, darüber zu diskutieren. Die Erschöpfung und seine vollgesogenen Kleider zogen an ihm wie eine Legion unsichtbarer Kobolde und machten jeden Schritt schrecklich mühsam. Außerdem konnte er jetzt das Sommerhaus deutlicher erkennen, und wenn auch die Stimmen der Feuerblume außergewöhnlich still schienen, waren es seine eigenen Erinnerungen ganz und gar nicht.
    »Wer zuerst die Tür berührt, ist der König des Kliffs!«, rief seine Schwester, und ohne auch nur abzuwarten, ob er sie verstanden hatte, rannte sie los, die alten Felsstufen hinauf. Barrick zögerte kurz, schaute, ob Kendrick auch mitmachen würde, aber ihr großer Bruder wartete geduldig auf ihren Vater. Kendrick war zwölf und wollte unbedingt zeigen, dass er schon fast ein Mann war — er würde keine kindischen Spiele spielen. Barrick verfolgte seine Zwillingsschwester die Stufen hinauf
    »Gemogelt!«, tief er »Du bist früher losgerannt.«
    »Das ist keine Mogelei«, rief sie über die Schulter und rutschte vor Lachen fast auf den von Wind und Regen glattpolierten Stufen aus. »Das ist Strategie!«
    »Wenn einer von euch ohne die Wachen dieses Haus betritt«, brüllte ihr Vater vom Anlegesteg herauf »ziehe ich euch das Fell über die Ohren und verfüttere euch an die Hunde!«
    Was Briony natürlich erst recht zum Lachen brachte — sie liebte diese Hunde so heiß und innig, dass sie sich vermutlich mit Freuden von ihnen verschlingen ließe, dachte Barrick —, und plötzlich trat sie bei einer Stufe zu kurz und fiel beinahe hintenüber
    »Briony!«, schrie ihr Vater »Pass auf Mädel!«
    Ihre Arme kreisten wie die Flügel einer Windmühle, als sie das Gleichgewicht zu halten versuchte, und Barrick holte sie ein. Im Vorbeirennen gab er ihr mit dem gesunden Arm einen ganz kleinen Stoß, sodass ihr Gewicht sich nach vorn verlagerte und sie wieder Halt fand.
    »Schummler!«, rief sie ihm nach. »Du hast mich geschubst!«
    Jetzt war es Barrick, der lachte. Sie wusste, dass das nicht stimmte — sie wusste, dass er ihr geholfen hatte, statt immer selbst der zu sein, dem alle helfen mussten, und es fühlte sich großartig an. Er erreichte den Weg am oberen Ende der Klippen und rannte in Richtung Sommerhaus, vorbei an den Zypressen. Er konnte gerade die breite Kutschzufahrt sehen — eine überaus unnütze Einrichtung an einem Ort, wo es weder Straßen noch Kutschen gab, aber wahrscheinlich hatten König Aduan und seine Baumeister mit der Insel noch Größeres vorgehabt —, als er plötzlich die Schritte seiner Schwester hinter sich hörte.
    »Hab dich!«
    Glaubte sie etwa, nur weil er einen verkrüppelten Arm hatte, wäre er auch lahm? Er streckte den Kopf vor, legte seine letzte Kraft in einen Endspurt über den Kies der Kutschzufahrt und schlug knapp vor seiner Schwester an die Eingangstür des Sommerhauses. Zu atemlos, um irgendetwas zu sagen, ließen sie sich auf die oberste Stufe sinken. Als seine

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