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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Fatalste, was Kettelsmit tun könnte, noch mehr Aufmerksamkeit darauf zu lenken, indem er hinging. Da er ausnahmsweise mal keinen Hunger hatte, beschloss er, dieses außergewöhnliche Wohlgefühl zu nutzen, um sich an die Arbeit zu machen, die ihm aufgetragen worden war.
    Okros' Gemächer befanden sich ebenfalls im Palast, nur wenige Flure von den ehemaligen königlichen Gemächern, die Hendon Tolly für sich beschlagnahmt hatte. Der Wachsoldat, der mit säuerlicher Miene vor Okros' Tür stand, hatte den Schlüssel an einer Kette um den Hals hängen. Als er das Schreiben mit Hendon Tollys Siegel sah, nahm er sofort Haltung an. Nachdem er aufgeschlossen hatte, wollte er Kettelsmit offensichtlich in den Raum folgen, aber der Dichter sagte: »Ich muss hier allein sein.
›Es reicht nicht, dass ich mit den Augen meines Körpers sehe‹«,
zitierte er den krakischen Barden Tyron.
»›Ich muss auch mit der Seele schauen, sonst bin ich blind.‹«
    Der Wächter bedachte ihn mit einem Blick, der da besagte, dass krakische Dichtung schon in Friedenszeiten etwas höchst Suspektes war, willigte aber widerstrebend ein, draußen zu bleiben.
    Tolly hatte Kettelsmit erklärt, dass Okros' Räume im Großen und Ganzen im selben Zustand waren wie beim Tod des Arztes. Wenn das stimmte, befand Kettelsmit, war Okros nicht gerade ein ordentlicher Mensch gewesen. Es war ein einziges Chaos: Auf jeder waagrechten Fläche türmten sich Bücher und Papiere, und der Boden sah aus, als hätte man hier körbeweise Dokumente ausgekippt. Kettelsmit hatte jedoch den Verdacht, dass ein Teil der Unordnung erst nach Okros' Tod entstanden war, und zwar dadurch, dass etliche Leute bereits alles nach eventuellen Geheimnissen oder Wertgegenständen durchwühlt hatten, womöglich auch ebenjener Wächter, der jetzt vor der Tür stand. Kettelsmit wusste, dass Hendon Tolly noch in Okros' Todesnacht viele von dessen Büchern und Dingen an sich genommen hatte: Die würde er nicht inspizieren können, ohne dass Tolly ihn überwachte. Das jetzt war seine einzige Chance herauszufinden, ob Okros sonst noch irgendetwas Bedeutsames hinterlassen hatte.
    Bei dem, was noch da war, schien es sich um eine Mischung aus eher banalen und extrem esoterischen Texten zu handeln, wobei es hauptsächlich um Geschichte und divinatorische Künste ging. Das Einzige, was ihm auffiel, war ein Band mit dem Titel
Die Agonie der verleugneten Wahrheit,
der ihm gänzlich unbekannt war, über dessen Verfasser, Rhantys von Kalebrien, er jedoch einmal etwas Merkwürdiges gehört zu haben meinte. Kettelsmit zog das Buch aus dem Regal und begann dann, an nicht ganz so naheliegenden Stellen zu suchen, die Möbel nach versteckten Schubladen abzutasten, ja selbst die Rückseiten der Schränke auf Geheimfächer zu kontrollieren, jedoch alles ohne Erfolg. Als er das letzte Schränkchen wieder an seinen Platz schob, fiel ihm etwas höchst Ungewöhnliches auf. Auf einer Ecke der dick mit Staub bedeckten Oberfläche waren ein paar seltsame Abdrücke, die aussahen wie winzige menschliche Fußspuren.
    Es musste eine Täuschung sein — wahrscheinlich waren es nur die Fingerabdrücke von jemandem, der, so wie er jetzt, den Schrank verschoben hatte. Trotzdem, man konnte dieses halbe Dutzend kleiner Abdrücke, auch wenn es zum Teil von späteren, unspezifischeren Spuren überlagert war, einfach nicht betrachten, ohne im Geist ein Menschlein von der Größe einer Wäscheklammer zu sehen, das durch den Staub tappte wie durch Schnee.
    Sehr zu seinem Ärger musste Kettelsmit eine ganze Weile mit dem Wächter darüber streiten, ob er etwas aus dem Zimmer mitnehmen durfte oder nicht, doch er baute auf seine temporäre Macht als Reichshüter Tollys Beauftragter, und schließlich gab der Wächter knurrend nach.
    Da er schon mal diese seltene Freiheit hatte, verspürte Kettelsmit nicht die geringste Lust, sich auch nur in Hendon Tollys Nähe zu begeben, also ging er stattdessen auf der anderen Seite des Palasts hinaus und zu den Bedienstetenquartieren in der Nähe der Küchen, wo er und Puzzle so lange eine Schlafkammer geteilt hatten.
    Der Hofnarr lag halb schlafend und sichtlich nicht nüchtern auf dem Bett, rutschte aber, um Kettelsmit Platz zu machen.
    »Nein, ich bleibe sitzen«, erklärte er dem alten Mann. »Ich habe zu lesen.«
    »In letzter Zeit habe ich Euch gar nicht mehr gesehen«, sagte Puzzle. »Habe mir schon Sorgen um Euch gemacht.«
    »Ich diene jetzt dem Reichshüter persönlich.«
    Puzzle setzte

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