Das Herz
sich danach sehnten, wiederzuerwachen und in die Welt zu entschlüpfen, vielleicht war dann ja etwas dran.
Abermals zog etwas seine ermattende Aufmerksamkeit auf sich, diesmal mit der Folge, dass ihn ein Schauder überlief und seine Nackenhaare sich sträubten.
Glaubenskern der Hypnologen ist jedoch eine noch seltsamere Überzeugung — dass das Zentrum der religiösen Welt nicht in den südlichen Landen oder im großen Hierosol liegt, ja nicht einmal in Tessis, der jüngeren Kapitale des Trigonatsglaubens, sondern vielmehr in den nördlichen Territorien, bisweilen Anglins Land oder auch Markenlande genannt, und genauer noch in der Südmarksburg, dem Herrschersitz jener Lande. Jener Glaube besagte, dass die Eingänge
zum
Reich der schlafenden Götter dort zu finden seien und dass dort auch vorzeiten jener Kampf stattgefunden habe, der zur Fühllosigkeit der Götter führte.
Trigonarch Gerasimos, der Mann, der die Koiykidonen bei lebendigem Leibe hatte verbrennen lassen, weil sie behaupteten, die Geburtsstätte des Waisenknaben gefunden zu haben und dortselbst einen Schrein errichteten, war wenig duldsam, was Provokationen der Kirche anbetraf und so belegte er in seiner Proklamation von 714 d. T. die Hypnologen mit dem Kirchenbann. Das war natürlich nicht das Ende des Häretikerglaubens — er hielt sich noch bis in die Pestzeit und darüber hinaus —, doch es markiert das Ende aller öffentlichen Spekulationen darüber, ob die Götter wirklich über die Menschheit wachen ...
Also waren es nicht nur Tolly und der Autarch, dachte Kettelsmit, es war eine ganze Bewegung, die die Kirche auszumerzen versucht hatte. Und diese Leute behaupteten nicht nur, dass die Götter schliefen, sondern auch, dass dieser Ort hier — ausgerechnet Südmarksburg! — das Zentrum des Himmelreichs gewesen war. Oder so ähnlich.
Aber wie konnte etwas so Verrücktes wahr sein, selbst wenn Hendon Tolly und irgendein wahnsinniger König vom Südkontinent es beide glaubten?
Aber andererseits, warum hatten die Qar Südmark noch vor dem Autarchen angegriffen? Warum waren alle so wild entschlossen, dieses kleine nördliche Königreich in ihre Gewalt zu bekommen, wenn doch ganz Eion zur Verfügung stand? Ob er nun Hendon Tolly helfen wollte oder nicht — es gab eindeutig noch vieles, was Matty Kettelsmit in Erfahrung bringen musste.
Als er sich in dieser Nacht schlafen legte, kreisten hundert seltsame neue Gedanken in seinem Kopf, und er träumte, dass er in fast völligem Dunkel durch einen Wald von seltsam verwachsenen Bäumen schlich, und um ihn herum überall riesige, schlafende Gestalten aufragten und auf der ganzen Welt niemand wach war außer ihm.
16
Ein Käfig für einen König
»Mit Erivors heimlicher Hilfe erreichten sie schließlich das Ufer nahe dem Dorf Tessideme am verschneiten Nordende des großen Strivothossees ...«
Der Waisenknabe, sein Leben und Sterben und himmlischer Lohn — ein Buch für Kinder
»Das dürft Ihr nicht, Prinzessin Briony.« Eneas ging pausenlos im Zelt auf und ab. Vielleicht war das ja leichter, als sie anzusehen. »Ich kann nicht zulassen, dass Ihr um eines solchen Irrsinns willen Euer Leben wegwerft — das wäre ein Verbrechen an Eurem Volk. Es tut mir leid, aber ich muss Euch verbieten, auf die Suche nach König Olin zu gehen.«
»Mir tut es auch leid«, erklärte sie, »aber ich muss Euch sagen, dass Ihr die Situation völlig verkennt. Ihr könnt mir nichts verbieten. Ich werde es tun. Ich habe über ein Jahr nicht mehr mit meinem Vater gesprochen. Ich werde alles riskieren, um ihn zu sehen.«
»Nein!« Jetzt sah er sie bestürzt an. »Das lasse ich nicht zu!«
»Und wie wollt Ihr mich davon abhalten, teurer Freund?« Sie rang darum, einen festen, ruhigen Ton beizubehalten — er sollte nicht denken, es wäre irgendeine Art von weiblicher Schwäche. »Wollt Ihr mich einsperren? Sollen mich Eure Männer Tag und Nacht schreien hören, dass Ihr mich verraten habt?«
»Was?« Eneas musterte sie fast schon verblüfft. »Das würdet Ihr doch nicht tun.« Es klang nicht hundertprozentig überzeugt.
»Oh, und ob ich es tun würde! Ich weiß, es ist gefährlich, aber ich muss zu ihm.«
Der Prinz ließ sich auf einen Hocker fallen. Er sah so unglücklich aus, dass sie nur mühsam den Impuls unterdrücken konnte, seine Hand zu nehmen. Eneas war ein guter Mensch, ein wirklich guter Mensch, aber wie die meisten Männer glaubte er, für das Wohl jeder Frau in seiner Umgebung verantwortlich zu sein.
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