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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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wäre das Leichteste von der Welt, dir ein Ohr abzuschneiden, Dichter«, sagte Tolly sanft, als redete er einem Kind beruhigend zu. »Oder beide. Was wärst du dann für ein Dichter — ein tauber?«
    Matty Kettelsmit verzichtete darauf zu bemerken, dass er auch ohne Ohrmuscheln wahrscheinlich noch hören könnte. Ja er atmete nicht mal mehr, während das Messer die zarte Hautstelle kitzelte.
    »Es gibt anderes zu tun, Dichter. Du kannst lesen, und du bist nicht der dümmste Kerl in meinem Königreich. Ich bin sicher, du wirst aus dem Gebrabbel all dieser alten Gelehrten schlau. Finde heraus, was der Autarch gemeint hat. Und dann finde heraus, wo dieser Stein ist.« Kurz bohrte sich die Klingenspitze in die Haut, und Kettelsmit musste sich bezwingen, um nicht aufzuschreien. »Oder es passiert Schlimmes — und nicht nur dir. Für den Fall, dass du auf die Idee kommst, dich einfach aus meinen Diensten zu verdrücken und vor mir zu verstecken, sollst du wissen, dass ich das Haus deiner Schwester unter Beobachtung habe. Deine Mutter wohnt ja wohl auch dort. Es wäre doch traurig, wenn beide wegen Hexerei auf dem Marktplatz verbrannt würden.« Tolly lachte unvermittelt auf. »Nein, verbrennen müssten wir sie wohl irgendwo innerhalb der Hauptburg, meinst du nicht? Auf dem Marktplatz schlagen derzeit zu viele Kanonenkugeln ein. Wir würden ja nicht wollen, dass der Autarch die Arbeit für uns macht ...«
    Kettelsmit war sprachlos vor Entsetzen, weniger bei der Vorstellung, dass seine Mutter und seine Schwester als Hexen verbrannt würden — obwohl zumindest seine Schwester dieses Los nicht verdient hatte —, als vielmehr beim Gedanken, dass Tollys Männer, wenn sie in jenes Haus eindrängen, dort Elan M'Cory finden würden, und das wäre mit Sicherheit das Ende, ihres wie seins.
    »Gewiss, Herr«, brachte er schließlich heraus. »Ich werde alles tun, was Ihr sagt. Ihr braucht Euch wegen mir und meiner Familie keine Gedanken zu machen.«
    »Brav.« Das kalte, scharfe Ding war nicht mehr hinter seinem Ohr. Hendon Tolly hatte sich umgedreht und ging zu seinem Stuhl zurück, sodass Kettelsmit endlich wieder frei atmen konnte. »Gleich werde ich dir Okros' Gemächer zeigen — ich glaube, die Bücher sind noch dort. Aber zuerst habe ich da noch eine Idee. Leg die Hand wieder an die Wand.« Er setzte sich auf seinen Stuhl, zog ein Taschentuch heraus und drapierte es sich übers Gesicht. »Ich glaube, ich kann es, ohne dich zu sehen, aber du solltest lieber reden, nur sicherheitshalber — das erleichtert mir das Zielen. Rezitiere etwas, Dichter.« Er hob das Messer.
    Diesmal machte Kettelsmit die Augen doch zu. Wenn der Reichshüter nichts sah, wollte er auch nichts sehen.
    Eine Stunde später wartete Kettelsmit vor Avin Brones Kabinett, wie durch ein Wunder noch im Besitz all seiner Finger. Er war ungeduldig. Zum ersten Mal seit über einem Tagzehnt hing er für eine Weile nicht an Tollys Leine, und er hatte einiges zu erledigen; mit Brone zu reden, war nur der erste Punkt auf seiner Liste.
    Als er sich von Tollys Räumen entfernt hatte, war da, soweit er bemerkt hatte, niemand gewesen, der ihn verfolgte oder beobachtete. Vorsichtshalber hatte er den Palast zuerst verlassen und dann durch einen Nebeneingang wieder betreten, sich aber prompt in dem Labyrinth von winzigen Räumen verirrt, die in den letzten zweihundert Jahren dort entstanden waren, wo einst die alte Königliche Kapelle einen beträchtlichen Teil des Erdgeschosses eingenommen hatte. In jüngerer Zeit war hier eine Schule für die Söhne (und einige wenige Töchter) des Hofadels untergebracht gewesen. Jetzt hatte die Belagerung sämtliche Verteidiger von Südmarksburg in die Hauptburg zurückgedrängt, und dieser Irrgarten von kleinen Stuben diente als Hauptquartier des Konnetabels, sodass es voller Pagen und Soldaten war. Brone, noch vor einem Monat eine unerwünschte Person, hatte eine eigene kleine Flucht von Räumen erhalten.
    Die Männer im Eddon-Wappenrock, die Brone bewachten, wirkten hochgradig professionell — Kettelsmit konnte auf Anhieb erkennen, dass das hier kein verschlafenes Altenteil war. So sehr ihn Brone auch ärgerte und ängstigte, er musste zugeben: Der Mann war ein Phänomen. Vor wenigen Monaten noch auf seinem Stammsitz in Landsend so gut wie gefangen gesetzt und am Hof rundheraus verhöhnt und verspottet, war er jetzt wieder im Zentrum des Geschehens und residierte direkt neben Berkan Hud — dem Mann, der ihn verdrängt hattel. Brone

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