Das Herz
sich auf und sah ihn mit großen Augen an. »Tatsächlich? Was für ein Glück?«
Kettelsmit verdrehte die Augen, doch die Wahrheit würde der alte Mann sowieso nicht begreifen. »Hm-hm. Ich wollte Euch aber nicht stören. Ich brauche nur ein Plätzchen, wo ich in Ruhe lesen kann.«
Der Hofnarr verstand den Wink mit dem Zaunpfahl nicht. »Wisst Ihr schon, dass mich Gräfin M'Ardall gebeten hat, auf ihren Familiensitz in Helmingsee zu kommen und ihre Freunde und ihre Familie zu unterhalten? Sobald die Belagerung vorbei ist, bringen sie mich mit ihrer Kutsche hin?«
»Das ist ja großartig.« Kettelsmit schlug Rhantys' Buch auf und versuchte den Hofnarren zu ignorieren, der sich offenbar gegen das Schlafen entschieden hatte und alles hervorsprudelte, was ihm in letzter Zeit Interessantes passiert war — interessant für ihn jedenfalls.
» ... Und natürlich sagt Berkan Hud, er kann nicht dulden, dass Leute weg wollen, wir sind ja schließlich im Krieg. Habt Ihr den Konnetabel in letzter Zeit mal gesehen, Matty? Er ist jetzt noch nicht mal ein Jahr im Amt — wie lange war Brone Konnetabel, ein Dutzend Jahre? —, aber er sieht schon aus wie jemand, der nachts den Schwarzen Hund hört, bleich und hohlwangig und um Jahre gealtert ...«
»Verzeiht, Puzzle, aber ich muss das hier wirklich lesen.« Kettelsmit starrte schon eine ganze Weile in das Buch, ohne ein einziges Wort zu verstehen, obwohl es einigermaßen modernes Hierosolinisch war. »Ihr solltet jetzt zusehen, dass Ihr Euren Schlaf bekommt, und morgen früh erzählen wir uns dann alles.«
»Oh! Oh ... natürlich.« Puzzle sah ihn an wie ein Kind, das für die Missetat eines anderen geohrfeigt wurde. »Ich werde jetzt einfach gar nichts mehr sagen. Solange Ihr arbeitet.«
»Es ist ja nur, weil Tolly mir den Kopf abschlägt, wenn ich's nicht tue ...«
»Gewiss.« Puzzles knotige Finger winkten ab. »Macht nichts, gar nichts. Ich werde einfach schlafen.« Doch als er sich wieder hinlegte, war er steif wie ein Brett.
Kettelsmit seufzte. Er wusste, wann er geschlagen war — seine Mutter hatte die Waffe der Enttäuschung meisterlich zu benutzen gewusst. »Ach, na gut«, sagte er. »Ich schaue mal, dass ich in der Küche einen Rest von etwas Trinkbarem finde, dann reden wir.«
Der alte Hofnarr klatschte in die Hände und setzte sich schwungvoll wieder auf, so erfreut, als hätte er die Münze des Waisen und Süßigkeiten in seinem Schuh gefunden.
Stunden später, als Puzzle endlich eingeschlafen war und zufrieden vor sich hinschnarchte, nahm Kettelsmit sich
Die Agonie der verleugneten Wahrheit
vor und las wieder darin herum. Es war schwere Kost — eine Reihe verschrobener Abhandlungen über die großen Irrtümer der Geschichtsschreibung, soweit er erkennen konnte, wobei es vielfach um Ereignisse ging, von denen er noch nie gehört hatte, wie etwa das offenbar umstrittene Dritte Hierarchische Konklave. Erst als er mit seiner kursorischen Bestandsaufnahme zum letzten Teil des Buchs gelangte, stieß er auf etwas, das seine Aufmerksamkeit weckte: eine Häretikersekte, Hypnologen genannt, die behauptet hatte, dass die Götter nicht nur den Schlaf menschlicher Orakel nutzten, um mit diesen zu kommunizieren, sondern auch selbst schliefen. Diese Sekte war im achten und neunten Jahrhundert von der Trigonatskirche verfolgt und noch vor der Jahrtausendwende ausgelöscht worden, wenn auch allem Anschein nach in der Zeit des Großen Todes, als viele Menschen in Eion den Glauben an die Trigonatskirche und andere Autoritäten gänzlich verloren, ähnliche Gruppierungen wieder aufgetaucht waren.
Doch das Interessante war, dass Rhantys bei der Niederschrift des Buchs zu Beginn des zwölften Jahrhunderts keinerlei Drang verspürt zu haben schien, in die allgemeine Verdammung der Hypnologen einzustimmen. Er zitierte sogar viele Oniri und auch Passagen aus dem
Buch des Trigon
selbst in einer Weise, die suggerierte, dass die Ketzer vielleicht recht gehabt hatten — dass die Götter möglicherweise wirklich schliefen und eine weit weniger aktive Rolle im Leben der Menschen spielten, als dies in jener Zeit gegolten hatte, da die Texte des
Buchs des Trigon
zusammengestellt worden waren.
Einiges davon, dachte Kettelsmit, klang verblüffend ähnlich wie das, was Tolly die ganze Zeit redete. Und wichtiger noch, es klang auch wie das, was der schreckliche Autarch gesagt hatte. Wenn zwei mächtige Männer von verschiedenen Enden der Welt beide an schlafende Götter glaubten, die
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