Das Herz
verstand, der Junge aber wohl.
»Er sagt, es macht nichts«, wiederholte Lorgan die Worte des Mannes. »Er braucht jetzt keine lebenden Gefährten mehr. Er dankt Euch für Eure Ehrlichkeit. Wenn Ihr sterbt und über Euch gerichtet wird, so wie's bei ihm war, dann wird das Urteil gnädig ausfallen, meint er.«
Der Mann in dem schäbigen, dreckigen Gewand ließ den Beutel zu Boden fallen, wandte sich ab und folgte dem Weg nach Norden, wieder zu dem Dorf, wo sie beinah alle umgekommen wären, und in Richtung Südmarkstadt, das jenseits der Hügel liegen musste.
Der Junge weinte leise. Als der Mann zwischen den Bäumen verschwunden war, schüttelte Theron den Kopf und trat ein paar Schritte vor. Er zögerte, hob dann den Beutel auf und steckte das klimpernde, schwere Ding wieder in sein Wams. Im Moment schien das Geld unwichtig — kaum etwas schien in diesem Moment wichtig —, aber es würde der Tag kommen, da er froh drüber wäre. Und wenigstens war gesichert, dass der Junge sich nicht mehr als Bettler auf den Straßen von Bokeburg oder sonst irgendwo würde durchschlagen müssen.
Doch erst als der Häher wieder schrie und ihm etwas aus der Tiefe des Waldes antwortete — irgendein Vogel oder sonstiges Geschöpf, das Theron nicht identifizieren konnte —, schüttelte der Pilgerführer seine seltsame Lethargie ab, und er und der Junge wandten sich südwärts, wieder dorthin, wo die Welt noch einen Sinn ergab.
»Nein, Idiot, leg die Hand flach aufs Holz. Jetzt spreiz die Finger.« Kettelsmit tat, wie ihm geheißen, aber es war schwer, weil sein Arm so zitterte.
»Augen auf, Dichter.« Hendon Tolly gab klar zu erkennen, dass das keine Bitte war. »Die Sache macht ja keinen Spaß, wenn du so ängstlich die Augen zukneifst wie ein kleiner Junge, der auf ein Klistier wartet.« Er zog das Messer neben Kettelsmits Ohr heraus.
Abgesehen von den Wachen des Protektors waren sie allein in dem Raum, der allgemein das königliche Kontor hieß und einst das Amtszimmer des Schatzmeisters gewesen war. Die Goldtannentäfelung war fleckig von Speisen, die der Protektor an die Wand geworfen hatte, und pockennarbig von Dolchwürfen.
»Jetzt pass auf«, sagte Tolly und warf das Messer. Obwohl Kettelsmit leicht zuckte, verletzte es ihn nicht, sondern bohrte sich zwischen Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand fast zwei Zoll tief ins Holz.
Hendon Tolly zog ein weiteres Messer, als zauberte er es aus der Luft. »Bleib so!«
Diese Klinge traf nur ein kleines Stück neben die erste, steckte zitternd direkt an der Hautfalte zwischen Kettelsmits Zeigefinger und Daumen.
Tolly grinste. »Bei der Rübe des Kernios, schau dich an? Bleich wie der Tod und zitternd wie Espenlaub! Wozu braucht denn ein Dichter alle seine Finger?«
Kettelsmit schluckte. Hendon Tolly erwartete eine Antwort. »Zum Schreiben ...? Ich sollte doch für Euch schreiben, über ... über Euren Triumph, Herr.«
»Triumph, ja. Nur dass ihn mir dieser Krokodilficker von Autarch vor der Nase wegschnappen will.« Ein dritter Dolch blitzte plötzlich auf, sauste so dicht an Kettelsmits Gesicht vorbei, dass dieser die Luftbewegung spürte. Als das Messer zitternd neben dem Kopf des Dichters stecken blieb, erhob sich Hendon Tolly. »Er glaubte, ich hätte diesen ... wie heißt er doch gleich? Diesen ›Gottstein‹ Also ist der vielleicht für das ganze Unternehmen wirklich nötig.« Er zeigte auf Kettelsmit. »Du ... du wirst ihn mir beschaffen.«
Matty Kettelsmit war völlig verwirrt. Seine Hand brannte, da wo die Dolchklinge seine Daumenfalte geritzt hatte. »Ich, Herr? Wie meint Ihr das?«
Tolly sah zu den Wachen an der Wand hinüber, die sich alle Mühe gaben, aufmerksam zu wirken, ohne Hendon Tolly jemals direkt anzusehen, damit sie ihm bloß nicht auffielen; wer dem Protektor auffiel, dem widerfuhr Schlimmes. »Du wirst Okros' Bücher und Schriftrollen durchsehen und alles über diesen Gottstein herausfinden, den der Autarch will. Du wirst ihn mir beschaffen.«
»Aber Herr, ich verstehe nichts von solchen Dingen ...!«
»Ich vielleicht?« Tolly funkelte ihn finster an. »Auf die Knie, Dichter. Langsam bin ich dich leid.«
»Herr ...?«
»Runter!«
Matty Kettelsmit presste die Stirn auf den kalten Steinboden des königlichen Kontors. Er hörte die nahenden Schritte des Reichshüters, hörte dann, wie ein Messer aus der Täfelung gezogen wurde. Im nächsten Moment fuhr etwas Kaltes, Scharfes die Stelle entlang, wo sein linkes Ohr an seinem Kopf saß.
»Es
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