Das Herz
»Und jetzt, da wir zu dieser Entscheidung verurteilt sind, wollt Ihr schon wieder klagen, ehe Ihr sie überhaupt gehört habt!«
»Friede, ihr beiden«, sagte Zinnober. »Ihr macht es nicht leichter. Chaven, Ihr habt in dieser ganzen Diskussion noch kaum ein Wort gesagt. Habt Ihr gar keinen Vorschlag?«
Der Arzt blies Luft aus. »Ich wollte, ich hätte einen, Magister Quecksilber. Wie auch immer die Entscheidung ausfällt, wir werden alle tun, was wir müssen.«
Zinnober klatschte in die Hände. »Dann erkläre ich als Träger des Astion im Namen unserer allerhöchsten Steinhauerzunft, dass wir meiner Meinung nach keine andere Wahl haben — wir müssen kämpfen, und zwar jetzt. Wir müssen versuchen, sie von den Mysterien fernzuhalten.
Ich weiß, die Chancen sind verschwindend — wäre ich jemand, der wettet, käme es mir töricht vor, auch nur ein einziges Kupferstück auf uns zu setzen. Doch nach allem, was wir gehört haben, ist der Autarch besessen von unseren heiligen Tiefen und umgeben von Priestern und Zauberern, die ihm den Kopf mit Ideen von Göttern und schwarzer Magie gefüllt haben. Wir dürfen nicht das Risiko eingehen, dass an diesen Ideen etwas Wahres ist. Und schon gar nicht dürfen wir unsere heiligen Stätten kampflos aufgeben. Die Alten der Erde in ihren steinernen Betten würden uns verfluchen und verdammen, und wer könnte es ihnen verdenken?
Nein, wir müssen Widerstand leisten, so gut wir können. Wir sind nur tausend, vielleicht zweitausend mit denen, die noch kommen, aber wir werden die Qar an unserer Seite haben — und von welchem Schlage die sind, habt Ihr wohl alle gesehen.« Er senkte kurz den Kopf, nahm den Astion in die Hand, blickte darauf und steckte ihn dann wieder in sein Hemd. »Wir verteidigen die Mysterien. Das ist meine Entscheidung.«
»Dann wird der Tempel also aufgegeben ...?«, sagte Bruder Nickel, aber es klang eher resigniert als zornig.
»Wir lassen einen Trupp hier«, erklärte ihm Zinnober. »Aber wenn der Autarch sich so verhält, wie die Qar sagen, wird er sich weder für den Tempel noch für Funderlingsstadt sonderlich interessieren.«
»Diese unterirdische Invasion dient nicht der Einnahme der Burg«, sagte Vansen. »Wir sehen doch jetzt, dass es Sulepis nicht darum geht. Er hat das große Hierosol binnen Wochen in die Knie gezwungen. Mir ist schwer vorstellbar, dass er das nicht mit Südmarksburg auch könnte, womit alles, was darunter liegt, ebenfalls sein wäre und er uns alle aushungern könnte. Also hat er es offensichtlich, wie Yasammez und die Qar schon sagten, aus irgendeinem Grund eilig. Irgendetwas treibt ihn geradewegs vorwärts, obwohl er sein Ziel auf andere Art leichter erreichen könnte.«
Kupfer wandte sich an Vansen. »Warum sind die Qar bei diesem Kriegsrat nicht zugegen, Hauptmann?«
»Ich kann es Euch nicht sagen.« Vansen erhob sich. »Die Qar werden — wie immer vermutlich — zu dem Zeitpunkt kommen, den sie für richtig erachten. Wichtig ist, dass wir jetzt Magister Zinnobers Entscheidung haben. Wenn Ihr mich bitte entschuldigt — ich habe viel zu tun, und die Zeit ist knapp, die Südländer werden bald schon weiter vorrücken.« Er wandte sich an die übrigen. »Wir treffen uns nach der Abendessenszeit wieder hier. Mögen die Götter uns und Südmark schützen. Und Funderlingsstadt«, setzte er rasch hinzu.
»Irgendwessen Hilfe werden wir mit Sicherheit brauchen«, sagte Chaven.
»Die Qar müssen kommen«, sagte Vansen mehr zu sich selbst. »Ohne sie sind wir verloren.«
18
Verstreute und Erstgeborene
»In Tessideme pries man bald schon den alten Aristas für seine Weisheit und den kleinen Adis für seine Frömmigkeit. Die beiden wohnten zusammen in einer Hütte unter einer ausladenden, kahlen Eiche, und die Dörfler kamen oft zu ihnen und baten sie, von den Göttern zu ihnen zu sprechen.«
Der Waisenknabe, sein Leben und Sterben und himmlischer Lohn — ein Buch für Kinder
Das Boot schaukelte über die Wellen der Brennsbucht, und die Silhouette der Burg vor dem Mond wurde immer größer. Barrick hatte das Gefühl, viel schärfer zu sehen als früher, selbst noch in der Nacht zuvor. Die Steine der Seemauer, die die Festung umgab, schienen zu leuchten, nicht von Licht, sondern von der Intensität der Farben und Details, die er sogar im Abenddunkel noch aus mehreren hundert Ellen Entfernung zu erkennen vermochte. Und während sein Blick über jeden einzelnen Riss in jedem einzelnen Stein glitt, fühlte er in sich die
Weitere Kostenlose Bücher