Das Herz
Tiefen unter Südmarksburg hinabwand ... Und hinter diesem Bild reihten sich wie die endlosen Spiegelbilder, die entstehen, wenn sich ein Spiegel in einem anderen spiegelt, auf ebenjener Treppe die Töchter von Krummlings Blut, die Königinnen von Qul-na-Qar, jede ein Individuum und doch zugleich Teil eines einzigen vielbeinigen Wesens, das sich vorwärts und rückwärts durch die Zeit zog ... nun ja, jedenfalls rückwärts.
Weil es wohl keine mehr geben wird,
sagte eine Stimme in seinem Kopf — eine klare, wohlbekannte Stimme.
Es endet mit ihr ...
Ynnir?, fragte er, als ob man einen Teil der eigenen Gefühle und Gedanken tatsächlich etwas fragen könnte. Aber die Präsenz des blinden Königs war schon wieder verstummt.
»Ihr seid sehr freundlich, Schwester«, sagte Saqri in ihrem ruhigen, gelassenen Ton. Von unten herauf lächelte Altania, als Saqri fortfuhr: »Zu lange schon sind unsere beiden Völker nicht mehr in Eintracht zusammengetroffen.«
Die versammelten Dachlinge, auch Ketelhuts Leute, brachen in befriedigtes Gemurmel aus. Barrick konnte nur ahnen, wie wichtig es für so kleine Geschöpfe war, von Gleich zu Gleich behandelt zu werden.
Die kleine Königin nahm jetzt das Sprachrohr ihres Herolds. »Wir haben vieles miteinander zu besprechen«, sagte Altania zu Saqri. »Doch zuerst, wenn Ihr verzeiht, drängt anderes Geschäft.«
»Gewiss.« Saqri nickte.
»Herzog Ketelhut — teurer Onkel, es ist uns eine Freude, Euch wieder hier zu sehen!«
Ketelhut ging auf sie zu, während Diener ihr von der wunderschönen Taube halfen. Sie sah zu, wie er vor ihr aufs Knie fiel. »Ich danke dem Herrn des Höchsten Punkts für diesen glücklichen Tag.«
Die kleine Königin beugte sich vor, umarmte den bärtigen Mann, ermutigte ihn aufzustehen und hielt ihn dann eine ganze Weile umschlungen. »Zu lange wogten die Wasser zwischen uns«, sagte sie. »Nun ist die Familie wieder vereint.«
Die versammelten Dachlinge jubelten. Der alte Herzog Ketelhut schien sogar zu weinen, riss jedoch die Arme hoch und rief: »So sei es! Ein Hurra auf das Täfelholzl Ein Hurra auf den Großen Grünen Vorhang! Wir sind wieder eins!«
»So kommt nun«, sagte Königin Altania, als die Begeisterungsrufe verebbt waren, und bestieg wieder ihre Taube. »Euch allen ist in den Gängen unter der Feste ein Platz bereitet. Ihr werdet euch einrichten, werdet speisen, und dann besprechen wir, wie wir Euch helfen können, große Königin des Volkes.« Sie sah jetzt auch Barrick lächelnd an. »Euch und dem andren edlen Hüter der Feuerblume.« Sie machte eine Handbewegung, und das gesamte Dachlingsaufgebot, Berittene und Fußgänger, Männer, Frauen, Kinder und Alte, erklomm die Rampe wieder und verschwand in der Öffnung des Tonrohrs. Die Ingenieure blieben noch zurück, um die Rampe einzuholen, schafften dies jedoch erstaunlich schnell und eilten ebenfalls davon.
»Wo sind sie hin?«, fragte Barrick.
»Wir werden Altania wiedersehen, schon bald«, beschied ihn Saqri.
»Aber warum sind sie ... warum sind wir nicht ...«
»Hab nicht gesagt, wir warten auf
sie,
oder?«, sagte Rafe, der sich während der Begegnung im Hintergrund gehalten hatte. »Hab nur gesagt, wir warten.«
»Auf wen warten wir dann?«, fragte Barrick, aber Saqri antwortete nicht.
Rafe tat es an ihrer Stelle. »Auf jemand andres«, sagte er grinsend. »O ja, jemand
ganz
andres.«
Die Bauersfrau ließ Qinnitan nur widerstrebend gehen. »Bist du sicher, Mädel? Wenn du noch bleibst, kannst du heute Abend wieder mit uns essen.«
Qinnitan wünschte, sie könnte die Sprache besser. »Nein. Aber Dank. Und auch für Fahren Dank.« Sie kletterte vom Wagen. Sie hatte die Bauernfamilie aus Wildeklyff auf der Landstraße getroffen und ein Tauschgeschäft ausgehandelt: den Esel des toten Priesters gegen Unterkunft, Essen und Kleider auf dem Weg hierher, in dieses Städtchen am Ostrand der Brennsbucht. Der Bauer, der gerade einen Ordnungshüter fragte, wo auf dem Fischmarkt von Onir Beccan sie ihren Wagen aufstellen könnten, nickte ihr zu. Drei der vier Bauernkinder schliefen nach der langen Tagesreise, das älteste jedoch winkte ihr schüchtern zum Abschied.
Sie durchquerte das Zentrum des Städtchens, interessierte sich aber nicht für den Markt, ging vielmehr weiter bis zur Stadtmauer, wo sie auf den Hafen hinabblicken konnte, der sich ein ganzes Stück die Küste der weiten Bucht entlangzog. Irgendwo in diesem Gewirr von Schiffen würde sie sicher jemanden finden, der sie für
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