Das Herz
Geschichte dieses Ortes erwachen, erstaunlich wahre Erzählungen über die Götter und deren Diener, die aus der Tiefe seiner Erinnerung empordrängten, als wären sie dort im Dunkel gewachsen wie Pilze.
Alten Geschichten zufolge war Hiliometes selbst einmal hier eingedrungen, weil ihm Mesiya, die Mondgöttin, aufgetragen hatte, den goldenen Falken zu stehlen, der sie bewachte und praktisch zur Gefangenen ihres Gemahls Kernios machte. Und noch früher, ehe Sterbliche ins Land gekommen waren, hatte Erivor hier gegen das monströse Schlange-Stier-Wesen Androphagas gekämpft und ihm seinen Stachelspeer ins Herz gestoßen. Manche Stimmen behaupteten, Androphagas' Leichnam sei zum Midlanfels geworden, aber die Elementargeister sagten, der Fels sei schon immer da gewesen.
Die Letzte Stunde des Ahnherrn, wie die Qar Südmark nannten, war ein Ort, den in den letzten Jahrhunderten nur wenige Zwielichtler besucht hatten, der aber in ihrer Überlieferung dennoch wichtig und lebendig war. Ihr Wissen über diesen Ort, ihre Angst davor und ihre schmerzliche Sehnsucht danach umhüllten alles, was Barrick sah, wie dichter Nebel, doch mit Ynnirs weitgehend stummer Hilfe lernte Barrick, damit zu leben. In Qul-na-Qar hatte er das Denken fast ganz eingestellt, um mit dem befremdlichen Phänomen dieser neuen Erinnerungen fertig zu werden; jetzt machte Barrick Eddon die ersten vorsichtigen Schritte dahin, die Feuerblume wirklich Teil seiner selbst werden zu lassen.
Während Barrick noch auf die Mauern und die schroffen Granitfelsen des Ufers starrte und sich fragte, wie man denn in eine belagerte Festung gelangen wolle, wusste er plötzlich, wohin sie fuhren — es erschien in seinem Kopf wie eine aufgehende Blüte. »Die Seepforte«, sagte er laut.
Saqri drehte sich um und sah ihn an, blickte dann wieder gelassen aufs Wasser. Vor dem Mondlicht wirkte sie so reglos wie eine Galionsfigur.
Die Mauern ragten jetzt direkt vor ihnen auf. Behutsam manövrierte Rafe das schaukelnde Boot dicht an die Steinbrocken des Wellenbrechers heran, die so zufällig aufgehäuft wirkten wie die Wahrsagesteine eines Riesen. Als die Bootswand über Granit schrappte, streckte Rafe einen langen Arm aus und fand unter Wasser etwas, woran er das Boot vertäute. Im nächsten Moment war er auf die aufgeschichteten Steinbrocken hinübergeklettert, eine lange, dunkle Gestalt, die sich in die gesamte Geschichte des Skimmervolks zu verwandeln begann, wenn Barrick zu lange und zu unvorsichtig hinsah. Rafe kletterte ein kleines Stück weiter und umfing dann mit den Armen einen unregelmäßigen Stein, der von der Form her ein bisschen an die Keule eines Jongleurs erinnerte und dessen breiterer, unterer Teil in den schwappenden Wellen verschwand. Der junge Skimmer löste etwas auf der Rückseite — eine versteckte Verriegelung, die verhinderte, dass Flut oder Sturm den Stein bewegte.
»Festhalten, alle miteinander«, sagte Rafe. »Gibt einen mächtigen Platsch.«
Er hängte sich an den Stein, und der begann sich zu neigen. Barrick wusste, was passieren würde, aber der Anblick war dennoch verblüffend. Mit derselben langsamen Präzision, mit der die Funderlinge auf der großen Marktplatzuhr ihre Bronzehämmer schwangen, kippte der Stein ins Wasser hinab. Er war nur der sichtbare Teil des Mechanismus: Am anderen Ende des uralten Hebels befand sich unter Wasser ein etwa gleich großes steinernes Gegengewicht, sodass ein einziger kräftiger Mann oder eine kräftige Frau die Seepforte öffnen konnte, wenn er oder sie wusste, wo sich die Verriegelung verbarg.
Der Stein schlug so schwer ins Wasser, dass das Boot hüpfte wie ein Stück Birkenrinde. Rafe stieg wieder ein, machte das Boot los und manövrierte es durch die entstandene Öffnung. Gleich hinter der Einfahrt vertäute der junge Skimmer das Boot wieder, ergriff dann ein Seil, das aus dem Dunkel über ihnen hing, und schwang sich mühelos auf einen Stein in der Mitte der schmalen Wasserrinne. Sein Gewicht drückte den Stein unter Wasser, wodurch der andere Stein wieder emporschwang und die Einfahrt verschloss, sodass jetzt um sie herum fast völliges Dunkel herrschte; nur winzige Spuren von Licht sickerten von oben herab. Bis auf die schwarze Wasserrinne unter ihnen umgab sie nichts als Gestein.
Rafe stieg wieder ein, entzündete eine Laterne, hängte sie an den Bug und stakte das Boot dann mit einem Ruder vorwärts. Barrick fühlte sich, als wäre das Gestein, das ihn umschloss, der Körper von etwas Lebendigem,
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