Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams

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einem schlafenden Oger oder Drachen.
    Aber Südmark war etwas Lebendiges, wurde ihm erstmals klar. Es waren nicht die Qar-Stimmen, die es ihm sagten, weil für die Feuerblumenphantome alles auf der Welt so lebendig oder so tot war wie alles andere — »tot« oder »lebendig« schien für sie eine weitgehend bedeutungslose Unterscheidung. Barrick wusste nicht, woher er es plötzlich wusste, und auch nicht, warum es sich so wichtig anfühlte, aber Südmark war in der Tat lebendig, und zwar auf eine Art wie kaum etwas anderes. Es war lebendig, weil es voller Türen und Tore und Pforten war, und es war voller Türen, Tore und Pforten, weil es auf eigenartige, ja einzigartige Weise lebendig war. Die Götter, die Qar und auch die erst spät gekommenen Menschen hatten diesen Ort nicht zum Zentrum so vieler Geschehnisse
gemacht.
Sie alle waren hierher-gekommen, weil der Ort selbst so vital war wie ein schlagendes Herz.
    Wie hatte er all die Jahre hier wohnen können, ohne das zu merken? Wie hatten seine Vorfahren über so viele Jahrhunderte hier leben können, ohne es zu merken? Weil sie nur zu sehen vermocht hatten, was ihnen zu sehen gegeben war. Aber jetzt war das anders, bei ihm zumindest.
    Barrick konnte es jetzt sehen, ein bisschen jedenfalls, aber konnte er es verstehen? Und würde es einen Unterschied machen, ob er es konnte?
    Die kurze Fahrt auf der Wasserrinne war die Verkehrung ihrer Überfahrt vom M'Helansfels ins Traumhafte: Die Wellen, die sich jetzt um sie türmten, bestanden nicht aus Wasser, sondern aus dunklem Granit mit weißem Kalksteinschaum. Sie folgten dem Licht ihrer eigenen Laterne durch einen Tunnel aus nacktem Fels, bis sie schließlich von einem schweren Eisengitter aufgehalten wurden, das in einer Mauer aus behauenen Steinen verankert war. Aus der Mauer kamen überall Leitungsrohre aus Ton, die jedoch zu dieser Jahreszeit kein Wasser zu führen schienen.
    Rafe zeigte auf das schwere Gitter, das dick mit Rost und Schlamm verkrustet war. »Dahinter sind die Kanäle von Südmarksburg, die bei den Häusern vom Lagunenviertel und so. Und dann kommt die Lagune. Aber dahin könnt Ihr nicht. Viel zu gefährlich für jemand wie Euch, Majestät.« Er sah Barrick an und runzelte verwirrt die Stirn. »Majestäten, mein ich, Egye-Var verzeih mir.«
    »Das heißt ...?«, fragte Barrick.
    »Wir warten.« Dies schien Rafe mit einem gewissen Genuss zu verkünden. Er lehnte sich im Bug zurück, die langen, dünnen Arme vor der Brust verschränkt. Die Dachlinge in ihrem Kasten flüsterten besorgt miteinander, sodass Barrick das Gefühl hatte, neben einem Stock voller ängstlicher Bienen zu sitzen. »Es kommen welche, um uns den restlichen Weg zu führen.«
    Sie brauchten nicht lange zu warten. Barrick hörte sie noch vor Rafe und sah sie, als sie sich dem Ende des Wasserrohrs näherten: ein Zug von winzigen Fackeln, nicht heller als Waisenfestkerzen. Es war eine weitere Schar Dachlinge — Hunderte, soweit er erkennen konnte, die sich am Ende des Rohrs drängten.
    Rafe erhob sich abrupt, was das kleine Boot ins Schaukeln brachte, hob dann den Kasten samt den überraschten Insassen hoch, stellte ihn vorsichtig auf den Mauervorsprung am Rand des Kanals und öffnete die Tür in der Kastenwand. Die ersten Dachlingswachen traten heraus und blickten sich misstrauisch um, dann folgte ihnen die imposante, wenn auch etwas zerknitterte Gestalt des Herzogs Ketelhut.
    Ein Trupp von Dachlingsingenieuren ließ, als wäre das alles exakt vorbereitet, eine Rampe hinab, um den Höhenunterschied zwischen dem Ende des Rohrs und dem Mauervorsprung zu überbrücken. Dann kamen die übrigen Dachlinge die Rampe herunter, die meisten zu Fuß, ein paar Dutzend aber auch auf hüpfenden Vögeln. Der letzte dieser Vögel war besonders prächtig herausgeputzt, und seine Reiterin trug einen enormen Kopfschmuck auf dem roten Lockenhaar. Ein winziger Mann postierte sich vor ihr und setzte ein ebenso winziges Sprachrohr an den Mund. »Seid gegrüßt, Saqri von der Feuerblume, große Königin. Ihre umjubelte Hoheit, Königin Altania von Dachland, Täfelholz und Neu-Dachland, freut sich, Euch hier wieder begrüßen zu dürfen, Saqri vom Alten Gesang.«
    Wieder?,
wunderte sich Barrick, doch schon im nächsten Moment sah er, als wäre er selbst dabei gewesen — was ja auf etwas, das jetzt Teil von ihm war, in der Tat zutraf —, die junge Saqri, schlank wie eine Birke und mit nachthimmelschwarzem Haar, einer uralten Treppe folgen, die sich in die