Das Herz
in die leeren, rollenden Augen und fragte sich, ob er dort irgendeinen Funken des Verstehens sehen würde. »König Olin meinte, ich solle mir von Euch etwas erzählen lassen.« Er musste grinsen, ja, fast schon lachen. »Was natürlich eine Art Code ist, da Ihr ja nicht sprecht. Aber ich glaube, ich habe Euch unterschätzt — wie viele andere auch. Ich glaube, Ihr seid gar nicht so umnachtet, wie wir dachten. Also sprecht mit den Augen zu mir, wenn Ihr mich versteht. Hat er etwas für mich hinterlassen? Hat Olin etwas für mich hinterlassen?«
Als ob er das, was er zu tun hatte, nur mit äußerster Willensanstrengung vollbringen könnte, hörte Prusus für einen Moment auf zu zittern. Er reckte den Kopf vor, als ob er es darauf anlegte, von seinem Stuhl zu fallen — als ob ihn Panik gepackt hätte und er irgendwie entkommen wollte. Vash spürte Ärger in sich aufsteigen. Warum sollte er sich mit einer solchen Missgeburt abgeben? Dann merkte er, dass Prusus starr in eine Richtung blickte, auf seinen eigenen Schoß — vielleicht versuchte er ja, mit seinem Kopf auf etwas zu deuten.
Vash beugte sich näher heran. Da, in der knochigen Faust des Scotarchen, steckte etwas Helles — ein Stück Pergament.
»Ah«, sagte Vash. »›Wendet Euch an den Scotarchen‹, hat er gesagt. Sehr clever.« Mit spitzen Fingern wackelte er das zusammengefaltete Pergamentfetzchen los, ohne die Hand des Scotarchen zu berühren. »Und welchen Verrat an unserem geliebten Goldenen schlägt der feindliche König vor?« Das sagte er für mögliche Lauscher, mit denen man an Sulepis' Hof wie auch schon am Hof von dessen Vater und Großvater immer rechnen musste.
Die Botschaft war nicht unterschrieben und, nach der krakeligen Schrift zu urteilen, hastig hingeworfen.
»Es ist noch nicht zu spät, Euch selbst zu retten. Benachrichtigt Avin Brone auf der Burg. Sagt ihm, was Ihr wisst. Sonst werden Südmark und Xis vernichtet. Der wahnsinnige S. hat keine Verbündeten. Alles, was lebt, ist sein Feind.«
Schon beim bloßen Anblick dieser Zeilen fühlte sich Vash, als stünde er in eisigem Wind, als hielte er eine wütende Giftviper in der Hand. Er wusste, er musste die Botschaft vernichten, und zwar schnell. Ob er sich die Worte merken würde oder nicht, ob er sich erlauben würde, darüber nachzudenken, oder nicht, er musste sicherstellen, dass niemand jemals dieses Stück Pergament zu Gesicht bekam. Avin Brone! Sonst noch was? Pinnimon Vash sah sich um, fühlte sich plötzlich wie ein Dieb, der gezwungen ist, langsam die Straße entlangzugehen, während gestohlenes Gut seine Taschen beult. Traute er sich, das Pergament bis in sein eigenes Zelt zu bringen, wo er es in seinem Kohlebecken verbrennen konnte?
Etwas direkt vor ihm machte ein blubberndes, seufzendes Geräusch. Vash, dessen Gedanken so rasten, dass er sich kaum rühren konnte, blickte zerstreut auf den Scotarchen, der jetzt wieder den Mund bewegte. Diesmal merkte Vash, dass das unheimliche Geräusch, ein nasales Stöhnen, durchsetzt mit feuchten, verwischten Konsonanten, in Wahrheit eine Art Sprechen war und dass er, wenn er sich etwas konzentrierte, sogar verstehen konnte, was da gesagt wurde.
»Pramendischhh glein ...«, wiederholte Prusus, und seine Hand krallte und wackelte in der Luft, als hätte sie ein Eigenleben, ihre eigenen geheimen Freuden und Leiden. »Schluggdschhh runda ...«
Das Pergament ist klein,
sagte er.
Schluckt es runter.
Verblüfft tat Vash, wie ihm geheißen. Es blieb ihm beinah in der Kehle stecken, aber schließlich war es drunten.
22
Das Tor der Verdammnis
»... und auch das Dorf Tessideme litt unter ganzjährigem Schnee, eisigem Wind und gefrorenem Ackerboden. Die Tiere verhungerten, die Feldpflanzen wurden schwarz und starben ab ...«
Der Waisenknabe, sein Leben und Sterben und himmlischer Lohn — ein Buch für Kinder
Der Nebel über der Bucht war weggesengt, und die hohen Türme der Südmarksburg leuchteten in der Sonne, die sie von jenseits der äußeren Mauer anstrahlte, jeder in einer anderen Farbe, jeder mit seiner ganz speziellen Form. Unter normalen Umständen wäre es ein beeindruckendes Bild gewesen, doch für Qinnitan, die als Gefangene zu dem Mann gebracht wurde, den sie auf Erden am meisten fürchtete, bedeutete es nur Scheitern, Schrecken und die Unentrinnbarkeit des Schicksals: Die Götter wollten sie offenkundig dafür demütigen, dass sie dem hatte entkommen wollen, was sie ihr bestimmt hatten.
Als Qinnitan auf die näher
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