Das Herz
an die Wand des Tempelzelts gelehnt, auf dem Boden saß: Er sei zwar schon auserwählt, ein richtiger Priester zu werden, aber wenn er sie erst zu Panhyssir gebracht habe — oder gar zum Goldenen selbst,
gepriesen sei sein Name, möge der Falke der Bishakh ewig fliegen —,
könne er so gut wie sicher ein Prediger-Priester werden, was ja eine große Ehre sei.
»Aber ich habe nichts Unrechtes getan«, protestierte sie. »Ich bin selbst Nushashpriesterin — ich war am Bienentempel. Ich bin noch Jungfrau. Ist Euch klar, dass sie mich foltern werden, wenn Ihr das tut, Bruder Gunis? Dass sie mich töten werden?«
Er schwieg kurz, und sein Mund wurde ein schmaler Strich, als hätte er Angst, dass etwas herauskommen könnte ... oder hinein. »Wenn du eine Gefangene bist, solltest du deine Missetaten bereuen«, sagte er schließlich. »Jeder weiß, dass der Goldene großmütiger ist als irgendein Mensch, gnädiger noch als die Götter?« Er nickte. »Ja, gib mir deine Hand, Mädchen. Lass uns gemeinsam dafür beten, dass dir vergeben wird.«
Sie hatte nicht die Kraft sich zu widersetzen. Qinnitan ließ Bruder Gunis ihre Hand fest in seine feuchten, warmen Hände nehmen. Da war ein Glänzen in den Augen des jungen Priesters, das nichts mit ihr zu tun hatte, jedenfalls nicht mit ihrer fleischlichen Präsenz: Er sah die großartige Zukunft vor sich, die ihn erwartete. Qinnitan zuckte zusammen, als er laut zu beten begann. Es war das Neue Glaubensbekenntnis, das der junge Autarch selbst verfasst hatte. Dieser Gunis war entweder sehr ehrgeizig oder wahrhaft gläubig. In beiden Fällen würde er nichts für sie tun.
Gunis nahm zwei Wachen mit, mürrische Hakka-Schleuderer, die, ihrer Miene nach zu urteilen, lieber vergorene Milch trinken wollten, als sich mit einem Priester und einem — wie sie offensichtlich nach einer kurzen, gleichgültigen Musterung befunden hatten — dürren Mädchen abzugeben, das nicht mal die Mühe einer Vergewaltigung lohnte. Als sie hörten, dass Qinnitan zum Goldenen persönlich gebracht werden sollte, strafften sie sich etwas, rechneten aber sichtlich nicht damit, zu einer besonders hohen Stufe in der Befehlshierarchie vorzudringen, ehe sie von dieser Pflicht entbunden wurden: Gemeine Soldaten gelangten nicht vor den Herrn des Großen Zeltes selbst.
Die Soldaten führten sie und Gunis durchs Lager und hinaus zum südwestlichen Rand des Hafens, wo die Stadt in steinigen Stränden mit einigen wenigen, von ärmeren südmärkischen Fischern benutzten Anlegern endete. Hier reichten die felsigen Hügel bis fast ans Wasser, und vom Wind freigeschliffene Felszacken zogen sich noch über den Strand hinaus, ragten aus dem Buchtwasser wie schiefe Zähne. Die Felsfront, die so steil überm Strand aufragte, als wären die Hügel hier mit einem riesigen Fleischermesser abgeschnitten worden, war weiß und taubengrau, mit grünem Bewuchs obendrauf, doch was Qinnitans Blick festhielt, waren die schwarzen Löcher im Fuß der Klippe. Sie wusste, ihr blieb nichts anderes übrig, dennoch schaffte sie es kaum, Fuß vor Fuß zu setzen, diesen bedrohlichen, dunklen Öffnungen entgegen.
Einmal war Qinnitan mit ihrer Familie an der Küste von Xis gewesen, zur Bestattung ihrer Urgroßmutter. Danach, als die Erwachsenen gesungen und getrunken hatten, waren ein paar Verwandte mit Qinnitan und ihren Geschwistern an den Strand hinuntergegangen, um über das Watt zu spazieren. Das war seltsam gewesen, vor allem für Qinnitan, die es gewohnt war, von Häusern und Menschen umgeben zu sein. Ein Vetter hatte sie in eine der größeren Klippenhöhlen mitziehen wollen, aber sie hatte sich geweigert, auch dann noch, als ihre jüngeren Brüder mitgegangen waren. Sie war auf den Felsen geblieben, hatte in den flachen Gezeitentümpeln geplantscht und eine gefühlte Ewigkeit gewartet. Als die anderen Kinder schließlich zurückgekommen waren, hatte Qinnitan sich zwar wegen ihrer Feigheit geschämt, aber nicht bereut, dass ihr das Abenteuer entgangen war. Die dunklen Löcher hatten sie an das erinnert, was ihr Vater immer über Xergal, einen der Feinde des großen Nushash, erzählte:
»Er wohnt in der Erde, verstehst du? So tief drunten, dass die Sonnenwärme nicht hinkommt und es sehr, sehr kalt ist. Und er hasst es, dort zu leben, und er hasst Nushash und die anderen vom Stamm der Ugeni, weil sie ihn dorthin verbannt haben. Und deshalb trachtet er danach, böse kleine Kinder, die Nushash nicht lieben, in die Hände zu kriegen und
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