Das Herz
kommende Burg blickte, überfiel sie plötzlich ein Gefühl, das sie schon monatelang nicht mehr verspürt hatte. Es war das Gefühl, das sie jedes Mal überschwemmt hatte, wenn ihr der Oberpriester Panhyssir diese schrecklichen Tränke eingeflößt hatte: dass die Welt nicht stabil war. Sie war so zerbrechlich wie eine Seifenblase, und darunter lauerten
Wesen.
Eines dieser Wesen fühlte sie in diesem Moment. Es reagierte auf ihre Anwesenheit, trotz der Entfernung, denn obwohl es in der Tiefe war, über eine Meile unter den kalten Wellen der Brennsbucht und unter vielen hundert Fuß Gestein, war es auch bei ihr, ja sogar in ihr. Qinnitan spürte sein Interesse — das Wesen fühlte sie genauso intensiv wie umgekehrt. Fühlte irgendjemand anders an Deck des Soldatenschiffs diese unheimliche, zudringliche Präsenz ebenfalls?
Warum hast du mich verlassen, Barrick? Warum sprichst du nicht mehr mit mir? Ich habe solche Angst!
Doch Klagen war sinnlos. Wo auch immer Barrick war, er war nur ein Sterblicher. Ja, er war auch kaum mehr als ein Kind: Er konnte nichts tun, um sie vor Sulepis zu retten, geschweige denn vor den Göttern selbst.
Die Sonne war viel zu hell. Daikonas Vo wusste, es musste jetzt Hexamene sein, fast schon Sommer, aber das Licht schien dennoch zu grell, ein Gleißen um ihn herum, als ginge er über eine Schicht weiß-glühender Kohlen.
»Zeigt die erste Sonne sich, zu Nushashs Lob erhebe dich«,
sagte er laut. Das hatte seine Mutter immer morgens beim Aufstehen gesagt, als er klein gewesen war, später dann allerdings kaum mehr. Komisch — er hatte schon ewig nicht mehr an die Schlampe gedacht. Bezeichnend, dass Folterqualen ihn an sie erinnerten.
Als eine leichte Gezeitenströmung sie in den Hafen von Südmarkstadt trug, glitt die überfüllte und überladene kleine Handelskogge zwischen einem Dutzend xixischer Kriegsschiffe hindurch, die vor Anker lagen oder durch das Hafenbecken eskortiert wurden. Die Seeleute auf diesen anderen Schiffen beobachteten, soweit sie gerade nichts anderes zu tun hatten, Vo und die anderen, die sich an Deck der Kogge drängten. Auch von der Koggenbesatzung wurde er immer noch neugierig begafft — ein zerlumpter Bettler, der irgendwie seine Mitnahme auf einem Schiff erzwungen hatte, das vom Autarchen requiriert war —, aber Vo war gar nicht auf Unauffälligkeit aus. Wenn das Mädchen aus dem Frauenpalast jetzt gerade zu Sulepis gebracht wurde, ja vielleicht schon dort war, war es für subtile Methoden bereits viel zu spät.
Je weiter Vo ins Lager vordrang, desto mehr Blicke zog er auf sich. Männer brüllten ihm nach, wer er sei und was er hier wolle, ob er sich einbilde, Bettler könnten einfach zwischen den Zelten der berühmten Weißen Hunde herumspazieren. Vo war sich sicher, dass ihm einige seiner ehemaligen Kameraden folgten. Normalerweise hätte er sich einfach umgedreht und die Konfrontation gesucht. Die Weißen Hunde waren alle keine Feiglinge, aber Vo hatte so eine Art, Leute anzusehen, selbst extrem starke und furchtlose Leute, dass sie sich plötzlich darauf zu besinnen schienen, was sie noch vom Leben haben wollten. Jetzt jedoch konnte er keine Zeit vergeuden.
Er stöhnte und musste stehenbleiben. Gekrümmt und die Arme fest an den Bauch gepresst, biss er die Zähne zusammen, damit ihm kein Schrei entfuhr. Es war, als ob eine glühende Kohle mit Beinen durch sein Gedärm krabbelte.
Bisher hatte ihn niemand aus seiner alten Truppe erkannt; er musste wahrhaftig wie ein Bettler aussehen. Er schaffte es schließlich, den Schmerz niederzuringen, und richtete sich wieder auf, bevor ihn noch jemand zur Rede stellte. Bis zu seinem Ziel waren es nur noch ein paar Dutzend Schritte, also ging er weiter, bemüht, nicht zu wanken, keine Schwäche zu zeigen, die sie als Signal nehmen würden, sich auf ihn zu stürzen wie Schakale auf einen verletzten Löwen und ihn niederzureißen. Oder es wenigstens zu versuchen: Daikonas Vo wusste, er würde sie notfalls alle töten — Finger in Augen rammen, zutreten, noch während er Knochen brechen hörte, seinen eisenharten Unterarm mit seinem ganzen Gewicht niederdrücken, bis die Luftröhre des Gegners kollabierte ...
Vo hatte Blutgeschmack im Mund. Er fuhr herum, die Arme schützend hochgerissen, aber die Soldaten, die ihn angestarrt hatten, waren ihm nicht gefolgt. Sie standen lachend da, sahen ihn schwanken, Zuckungen vollführen und mit sich selbst reden. Vo überkam Scham. Wie lächerlich war er? Hatte er sich auch
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