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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Sohn, jeder Kronprinz verspüren würde. Aber es ist nicht so einfach. Gebt mir diese Nacht Bedenkzeit. Morgen früh sprechen wir uns wieder.«
    Sie dankte ihm und ging hinaus. Ihr Abschied war seltsam förmlich, aber im Moment hätte Briony es auch nicht anders gewollt.
    Sie schlief nicht gut. Zwar hielt sie Lisiyas Vogelschädelamulett fest in der Hand, aber es brachte ihr keine Träume von der Halbgöttin oder irgendwelchen anderen Unsterblichen, nur solche, in denen sie auf der Flucht vor schattenhaften Wesen war, die sie nicht richtig sehen konnte, Wesen, die sie zornig zischelnd verfolgten, durch Dickicht und über sumpfigen Boden, wo sie immer wieder beinahe hinfiel. Als sie aufwachte, war sie so müde, als wäre sie tatsächlich die ganze Nacht gerannt.
    Trotzdem hielt sie es nicht aus, einfach nur herumzusitzen und darauf zu warten, dass Eneas sie rufen ließ. Also hüllte sie sich in ihren Kapuzenmantel und ging hinaus, um im ersten blauen Morgenlicht einen kleinen Spaziergang in der Nähe des Lagers zu machen. Die Tempelhunde hatten als Lagerplatz eine kleine Sackschlucht etwas abseits der Königlichen Straße gewählt, wo sie auf drei Seiten von schützenden Hügeln umgeben waren. Briony stieg den nächstgelegenen Hang hinauf, ohne den Wachtposten aus den Augen zu verlieren, setzte sich dann hin und beobachtete den Sonnenaufgang.
    Ich bin nicht minder stur als Eneas,
dachte sie bei sich.
Ich will nicht, dass er mit mir kommt, wenn er es mir irgendwann übelnehmen wird. Auch wenn ich seine Soldaten dringend brauche ... und mich, wenn ich ehrlich bin, auch über seine Gesellschaft freue.
    Doch jeder Tag, den sie mit Eneas Karallios, dem Kronprinzen von Syan, verbrachte, war irgendwie auch eine Lüge, jedenfalls fühlte es sich oft so an. Der Prinz mochte sie, das hatte er offen gezeigt. Er wollte sie heiraten, oder zumindest schien er das sagen zu wollen. Und vieles an ihm war ja wirklich bewundernswert. Da auch nur im Geringsten zu zögern, schien geradezu verrückt — praktisch jede Frau in ganz Eion würde es dafür halten. Aber Briony wusste nicht, was sie wollte, ja nicht einmal, was sie wirklich dachte und fühlte, und sie war einfach eigensinnig genug, sich nicht von dem, was andere dachten, zu irgendetwas treiben zu lassen.
    Die Sonne hing im Geäst der Bäume auf dem gegenüberliegenden Hügel. Der Tau im Gras war schon fast verdampft, und das Lager drunten war wach und machte sich bereit für den nächsten Tag auf der Landstraße — aber in welche Richtung würden sie ziehen? Was hatte der Prinz beschlossen? Und was sollte sie tun, wenn er sich wirklich entschieden hatte, nach Tessis zurückzukehren, wie sie es ihm geradezu nahegelegt hatte?
    Ich werde tun, was ich die ganze Zeit getan habe. Weitermachen,
sagte sie sich — und glaubte es sogar schon fast.
Ich werde der Stimme meines Herzens folgen. Und mit Zorias gnädiger Hilfe werde ich mich hoffentlich nicht als allzu töricht erweisen.
    Und doch hoffte ein kleiner Teil von ihr, dass sie nicht zu überzeugend auf Eneas eingeredet hatte.
    Die Gedanken an den Prinzen verknüpften sich wie meistens mit Gedanken an den Gardehauptmann Vansen. Wie seltsam, dass diese beiden Männer, die sich nicht kannten und sich wahrscheinlich auch nie begegnen würden, in ihrem Kopf so eng miteinander verbunden waren! Sie konnte sich kaum zwei unterschiedlichere Männer vorstellen, abgesehen von der Gutherzigkeit und Anständigkeit, die ihnen gemeinsam war. In allem anderen — Aussehen, Stellung, Reichtum, Macht — war Eneas von Syan dem Hauptmann Ferras Vansen eindeutig überlegen. Und Eneas hatte ihr seine Gefühle gestanden, wohingegen Briony zugeben musste, dass sich ihre Annahme, Vansen habe sie gern, nur auf vage Anzeichen stützte: ein paar Blicke, ein paar gemurmelte Worte, nichts, was nicht auch als die normale Befangenheit eines gemeinen Soldaten in Gegenwart seiner Monarchin ausgelegt werden konnte. Und er
war
ein gemeiner Soldat, was es noch idiotischer machte, in dieser Weise an ihn zu denken. Selbst wenn Vansen sich ihr zu Füßen würfe und sie anflehte, ihn zu heiraten, könnte sie es trotzdem nicht tun, so wenig wie sie die Frau eines ihrer Pferdeknechte oder eines Markthändlers werden könnte.
    Nicht ohne meinen Thron aufzugeben ...
    So etwas Verrücktes durfte sie nicht mal denken. Jetzt, da ihr Vater und ihr Bruder verschwunden waren — wer sollte sich um ihr Volk kümmern? Wer sollte dafür sorgen, dass Hendon Tolly seinen gerechten

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