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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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für sich zu behalten.«
    Er hatte gemeint, dass der finstere Xergal die Seelen solcher Kinder stahl und für alle Ewigkeit in seiner kalten, dunklen Unterwelt festhielt, aber bei Qinnitan hatte sich die Vorstellung festgesetzt, dass man sich, wenn man einen unterirdischen Ort betrat, zumal einen so furchterregenden wie diese Höhlen, dem kalten, zornigen Erdherrn praktisch darbot.
    Deswegen wurde jetzt, da Qinnitans Angst ohnehin schon an der Grenze des Aushaltbaren schien, auch noch dieser tiefsitzende Horror geweckt. Als sie schließlich die aufwändig angelegte Kontrollstelle am Eingang zur Haupthöhle erreichten, kämpfte Qinnitan mit den Tränen. Obwohl die Öffnung in der Felswand beeindruckend hoch war, blickte sie starr auf ihre Füße, als die Wachen nach kurzer Befragung des jungen Priesters die Gruppe hindurchwinkten. Die Hakka-Schleuderer nahmen sich Fackeln von einem bereitliegenden Stapel und entzündeten sie am Kohlebecken im Eingang. Gleich darauf blieb das Tageslicht hinter ihnen zurück, und Qinnitan wurde in endloses, flackerndes Dunkel hinabgeführt.
    Die xixischen Soldaten hatten eine Art Straße durch die Haupthöhle angelegt — den Weg geebnet und auf die Breite von Versorgungskarren erweitert, den Kalkstein da, wo er zu glatt gewesen war, aufgerauht und mit Schotter bestreut, sodass das Ergebnis fast wie eine der Versorgungsstraßen des großen Lagers im Freien aussah. Aber es war keine normale Straße: Sie führte durch ein bizarres Märchenland aus Gesteinssäulen, deren Schatten über die Höhlenwände glitten, wenn die Soldaten mit ihren Fackeln vorbeigingen. Dann, am Ende der Eingangshöhle, fiel die Straße ab und begann sich in die Tiefe hinabzuwinden, nur dürftig von da und dort in Steinhaufen steckenden Fackeln erhellt. Gelegentlich passierten sie einen weiteren Wachposten oder begegneten einem leeren Versorgungskarren, der an die Oberfläche zurückkehrte, ansonsten aber waren die einzigen Menschen, die Qinnitan sah, der eifrige Bruder Gunis und die beiden gelangweilten Soldaten, die die meiste Zeit leise miteinander redeten.
    Ein paar hundert Fuß unter der Erde erkannte Qinnitan im Fackelschein ein feines Rinnsal, Wasser, das aus dem Felsgewölbe tropfte, und ihr wurde klar, dass sie jetzt unter der Bucht sein mussten. Es tropfte an mehreren Stellen; das Wasser sammelte sich auf dem Höhlenboden zu kleinen Tümpeln, lief schließlich über und rann, Gesteinsrissen folgend, ins Dunkel davon.
    Als sie aus dieser Höhle in die nächste kamen, konnte Qinnitan plötzlich neben sich in die Tiefe blicken, da sich der Weg die Wände einer gewaltigen, mindestens hundert Fuß tiefen Kaverne hinabschraubte. Er bestand jetzt aus aneinandergereihten, stegartigen Holzkonstruktionen, die direkt an der Höhlenwand befestigt schienen. Der Grund der Höhle war voller Fackeln; Dutzende, wenn nicht gar Hunderte von Soldaten kamen und gingen durch Öffnungen am Fuß der Höhlenwände — wahrscheinlich Gänge, die sich in verschiedene Richtungen erstreckten wie die Speichen eines Wagenrads. Von hier oben sahen die Soldaten wie Ameisen aus, und Qinnitan hatte plötzlich das beklemmende Gefühl, dass sie immer tiefer in etwas hineingeführt wurde, das kein Reich von Menschen war.
    »Phantastisch, was unser Autarch hier geschaffen hat«, sagte Gunis zu den beiden Wachen. »Habt ihr Soldaten das alles in so kurzer Zeit gegraben?«
    Die Soldaten wechselten einen Blick. »Hier ist alles regelrecht durchlöchert, auch unter der Bucht und unter der Insel«, sagte der eine. »Die Mineure brauchten, ehrlich gesagt, gar nicht mehr viel zu tun.«
    »Trotzdem ist es phantastisch.« Gunis faltete die Hände vor der Brust und sprach ostentativ ein Dankgebet zu Nushash.
    Qinnitan nahm ihn kaum wahr, während sie der Abwärtsspirale des Wegs folgten und ihre Schritte jetzt auf Holz dröhnten, statt auf Schotter zu knirschen. Etwas hatte aus der Tiefe nach ihr gegriffen, etwas Unsichtbares, aber unglaublich Starkes hatte sie umschlossen wie eine kalte Hand, sodass sie auf einmal kaum Luft bekam.
    Es wusste, dass sie hier war. Sie fühlte, wie es sie in seinem Denken hin- und herdrehte. Es wusste, dass sie hier war ... und es war sehr hungrig.

    Das kommt mir bekannt vor,
dachte Daikonas Vo, als er vor der Felswand und der mächtigen, schwarzen Öffnung stand.
Es ist das Tor der Verdammnis.
Noch so etwas, wovon seine Mutter oft geredet hatte — ja, in der Nacht, als sein Vater sie umgebracht hatte, hatte sie diesen

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