Das Herz
hatte. Was konnte ein Kind ganz allein an einem Ort wie diesem wollen? Was hatte das zu bedeuten?
Plötzlich kam ihm eine Idee — konnte es das Werk der Götter sein? Hatten sie beschlossen, sich seiner nach all seinem Unglück doch noch zu erbarmen? Ihn zu dem Mädchen zu führen, damit ihm der Lohn zuteilwürde, den er mehr als verdient hatte?
Vo gab sich einen Ruck. Er hatte doch bereits das Tor der Verdammnis durchschritten, durch das, wie ihm seine Mutter immer erklärt hatte, niemand jemals zurückkehrte außer dem Waisenknaben — und jetzt tauchte, wie den ewigen Geschichten seiner Mutter entsprungen, dieses Kind hier auf, an einem Ort, wo Kinder nichts zu suchen hatten. Konnte es tatsächlich ein Zeichen sein? Vo befand, dass es idiotisch wäre, nicht daran zu glauben: Er würde dem hellhaarigen Jungen folgen.
In seiner Verzweiflung und Verwirrung straffte sich Daikonas Vo und folgte dem goldhaarigen Kind hinab in tieferes Dunkel.
»Die ist aber dürr. Glaubst du wirklich, sie ist für den Autarchen?« »Vielleicht mag er sie ja so.«
»Aber es heißt doch, seine Erste Ehefrau hat einen Hintern wie eine Zuchtstute.«
Qinnitan zog verächtlich die Oberlippe hoch und versuchte, die beiden Soldaten zu ignorieren, obwohl sie direkt hinter ihr gingen und keineswegs leise sprachen.
»Trotzdem, guck sie doch an — noch ein halbes Kind.«
»Sie hat diese rote Hexensträhne im Haar. Das ist ein Zeichen für Temperament, heißt es — diese Weiber sind wie Katzen, versuch eine zu was zu zwingen, und sie zerfetzt deine Haut zu Sandalenriemen.«
»Ha! Klingt doch doppelt interessant.«
Schließlich mischte sich Bruder Gunis ein. »Jetzt reicht es aber«, sagt er und drehte sich zu den Soldaten um. »Ihr sprecht von der Gefangenen des Goldenen, was schon schlimm genug ist, aber wenn ich Eurem Gerede zugehört hätte, hätte ich auch noch mitgekriegt, wie Ihr Königin Arimone beleidigt, und dafür würdet Ihr Bekanntschaft mit dem königlichen Vollstrecker machen.«
Die Soldaten murmelten eine Entschuldigung. In der steifen Pose moralischer Entrüstung drehte sich Gunis wieder zurück. »Musterknabe«, hörte Qinnitan einen der Soldaten leise sagen. »Hat nie eine Frau angerührt, der da«, brummelte der andere. »Keine Eier.«
Die Gänge waren mancherorts so eng, dass Qinnitan und ihre Bewacher ein Stück zurückgehen mussten, um einen entgegenkommenden Wagen vorbeizulassen. Die meisten Wagen kamen von Stellen, wo die Ingenieure noch arbeiteten, und waren mit Erde und Erzbrocken beladen, andere aber hatten eine schrecklichere Fracht: Leichen, lose in die eigene Soldatenkleidung gewickelt, die herausragenden Füße jedoch nackt, weil die Stiefel, die derjenige vielleicht selbst von einem Toten bezogen hatte, an einen anderen Soldaten übergegangen waren.
Was brauchten diese Männer noch, dachte Qinnitan, um zu erkennen, dass sie für ihren Gebieter Sulepis nicht mehr waren als tödliches Spielzeug? Wenn einer kaputt war, montierte man alles ab, was noch verwendbar war, und warf ihn dann auf den Abfallhaufen.
Die vielen Toten, die an ihnen vorbeigekarrt wurden, lösten in Qinnitan widerstreitende Gefühle aus. Sie hatte längst jede Hoffnung aufgegeben, dem Autarchen doch noch zu entkommen, aber zu sehen, dass diese Nordländer ihm Widerstand leisteten, machte ihr doch wieder Mut. Andererseits war jeder dieser Toten auf den Wagen ein junger Mann aus Xis oder einem der unterjochten Länder gewesen, nicht anders als ihre eigenen Brüder oder selbst der arme, verrückte Jeddin.
Doch wenn der Autarch hier siegte oder tat, was immer er hier, so fern des Großen Xis, vorhatte, dann war wohl bald die ganze Welt nur noch Futter für seine Gier und Grausamkeit. Bald würde man nicht einmal mehr über die Meere seiner Knute entkommen — er würde alle Lande in seinem Griff halten, auf der ganzen Welt. Sulepis war jung genug, mächtig genug und ganz bestimmt wahnsinnig genug, um diese Horrorvision wahr zu machen.
Sie hatten jetzt den Rand des unterirdischen Heerlagers erreicht. Sie waren immer noch weit oberhalb jeden Kampfgeschehens, wenn Qinnitan jetzt auch erstmals die Geräusche hören konnte, fernes Geschrei und gelegentliches dumpfes Knallen, das wie Kanonenschüsse klang. Die Posten, die sie jetzt kontrollierten, wirkten wesentlich konzentrierter und wachsamer als alle, die sie bisher gesehen hatten, ganz bestimmt aber konzentrierter und wachsamer als die beiden laxen Soldaten, die Qinnitan und Bruder Gunis
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