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Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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keine Chance, das Mädchen an sich zu bringen, selbst wenn er es einholte — wie sollte er unbemerkt zwei Wachen töten? Das Mädchen selbst würde ihn verraten, einfach nur, um ihn gefoltert und hingerichtet zu sehen. Seine ganze Mühe, sein ganzes Leiden, alles war umsonst gewesen. Er hatte wahrhaftig das Tor der Verdammnis durchschritten.
    Er folgte dem Gang wohl fast eine Stunde weiter hinab, wobei er sich immer wieder an Männern vorbeizwängen musste, die mit irgendwelchen Arbeiten beschäftigt waren. Die Ingenieure des Autarchen und ihre Sklaven bauten auch nach Beginn der seltsamen unterirdischen Invasion die Gänge noch weiter aus, verbreiterten sie und stützten sie ab. Vo sah schon fast vor sich, wie diese Höhlen am Ende ein zweiter Obstgartenpalast sein würden, mit hohen Decken und weiß verkleideten Wänden. Ja, wenn der Autarch so weitermachte wie bisher, würde vielleicht die ganze Welt irgendwann ein einziger Obstgartenpalast sein und jeder ihrer Bewohner entweder Soldat, Hure oder Sklave des Autarchen.
    Das hätte mir gebührt. Aber er ist cleverer Er sieht die Dinge genauso klar wie ich, und er ist reich und mächtig geboren. Ich hatte nie eine Chance — aber es hätte mir gebührt. Das hier sollte mein sein; die Welt sollte mein sein, kein Obstgartenpalast, sondern ein Vo-Palast, so groß wie die ganze Welt ...!
    Er ging den schmalen Weg entlang, beschäftigt mit seinem Weltpalast und der Ausstattung der einzelnen Räume, bis ihn die Komplexität der Mittel, die er brauchen, und die Zahl der Opfer, die sein Plan fordern würde, schwindelig machte und er plötzlich erschrocken stehen blieb. Zuerst dachte er, der grässliche Schmerz käme wieder — die ersten Anzeichen waren oft mit solch jäher Panik verbunden —, doch dann ging ihm auf, was ihn hatte erstarren lassen.
    Da war kein Weg mehr.
    Daikonas Vo blickte in das Schwarz, da, wo der Boden plötzlich abbrach. Fast wäre er ins Leere getreten.
    Er drehte sich um und ging vorsichtig wieder zurück, merkte jetzt erst, dass es wirklich ein sehr schmaler Pfad war, dass er schon geraume Zeit keiner xixischen Militärstraße mehr gefolgt war. War er irgendwo abgebogen? Vorhin hatten mehrere Gänge seinen Weg gekreuzt, aber sie waren sämtlich enger und niedriger gewesen als der leere Raum, der jetzt neben ihm gähnte, und er war an allen vorbeigegangen. Was war passiert?
    Vo ging weiter und hörte am Hall, dass der Abgrund neben ihm allmählich weniger tief wurde. Er war auf einem Pfad, der immer im Kreis um eine tiefe Kaverne herumführte, und näherte sich offenbar dem Grund, fand aber nichts, was auch nur entfernte Ähnlichkeit mit der breiten Straße hatte, auf der er hierhergelangt war. Der Durchmesser der Höhle war beträchtlich: Er brauchte fast eine Stunde, um sie sicherheitshalber einmal ganz zu umrunden.
    Nach einem Anstieg auf einem weiteren gesichtslosen Steinpfad zwischen langen schrägen Felswänden, wo nur sehr gelegentlich eine Armeefackel, die in einem Spalt steckte, den Schein seiner eigenen Fackel verstärkte, musste Vo sich schließlich eingestehen, dass das alles hier nicht so aussah, als wäre er schon einmal daran vorbeigekommen. Manches sah überhaupt nicht wie xixische Mineursarbeit aus. Er fragte sich, ob sie hier unten auch ausländische Ingenieure und Arbeiter hatten.
    Was auch passiert war, Vo hatte eindeutig keine Chance mehr, das Mädchen einzuholen. Ah, Götter, jetzt kam auch noch der Schmerz wieder, dieses Nagen in seinen Eingeweiden!
    Er wankte dahin, seinen flatternden Schatten hinter sich herziehend wie einen Krönungsmantel. Es tat so weh! Er schmeckte Blut. Alles in ihm wollte diese Qual irgendwie abstellen, aber sie ließ sich nicht abstellen ... es sei denn, er risse sie heraus ... risse sich den gesamten Bauchinhalt heraus ...
    Eine Bewegung vor ihm ließ Vo erstarren; seine Raubtierinstinkte waren stark genug, um selbst das Feuer in seinen Eingeweiden zu bezwingen, jedenfalls kurz. Jemand überquerte ein paar Dutzend Schritt vor ihm den Weg, um von einem Seitengang, den Vo nicht sehen konnte, in den gegenüberliegenden zu gelangen. Vo drückte sich in den Schatten und spähte mit angehaltenem Atem hin.
    Es war ein Junge — ein Nordländerjunge, noch mehrere Jahre vom Mannesalter entfernt. Sein Haar schien selbst in dieser Dunkelheit wie Weißgold zu leuchten, und er bewegte sich, als fühlte er sich hier unten heimisch. Es war wie eins der Holzschnitzbilder vom Waisenknaben, die seine Mutter besessen

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