Das Herz
Möglichkeit, den Verräter Hendon Tolly wiederzutreffen, vorzugsweise in einer Situation, in der sie die Sache unter sich ausmachen konnten. Sie schuldete ihm noch etwas im Namen des Hauses Eddon, von ihrer eigenen Ehre — ihr fiel kein anderes Wort dafür ein — ganz zu schweigen.
»Das tut mir sehr leid, Hoheit«, sagte Ena. »Waffenmeister Shaso war ein tapferer alter Mann und immer ein Freund der Kinder des Meeres.«
»Um ehrlich zu sein, es überrascht mich, dass Euer Volk ihn so gut kennt. Als er das Langhaus Eures Vaters betrat, wirkte es, als seien sie alte Freunde.«
»Es gibt sicherlich viele Geschichten zu erzählen«, sagte das Mädchen. »Aber nicht jetzt, meine ich. Wir müssen vor dem Morgengrauen über die Bucht sein. Das hindert die Xixier zumindest dran, mit den Kanonen auf uns zu schießen, die sie in die Hügel mitschleppen konnten. Tut mir die Ehre, Euch von mir nach Hause zurückbringen zu lassen.«
»Danke, Ena. Ich gehe nur meine Sachen zusammensuchen.«
Briony ging über den Kies zurück zu dem provisorischen Lager, wo Eneas und seine Männer mit den Skimmern die letzten Absprachen trafen. Sie hätte vermutlich auch dableiben sollen — immerhin gehörte sie ja zu Eneas' Ratgebern —, aber es war ihr zu schmerzhaft vorgekommen. Der lange Schauspieler Dowan Birk hatte ihr gesagt, sie werde jedenfalls noch ein Mal mit ihrem Vater sprechen, und das war auch eingetreten. Konnte die Begegnung im Gefängniszelt ihre letzte gewesen sein? Und jetzt hatte sie Barrick gefunden, und er hatte ihr einfach den Rücken gekehrt. Die Hoffnung, ihren Vater und ihren Bruder wiederzusehen, war das Einzige gewesen, was ihr in den finstersten Momenten die Kraft zum Weitermachen gegeben hatte. Jetzt war sie beiden so nah, konnte sie aber nicht erreichen. Der Schmerz drohte sie zu überwältigen.
Ich muss daran glauben, dass ich sie wiedersehe — dass der Himmel alles zum Guten fügt. Was bleibt mir anderes übrig?
Aber es gelang ihr nicht, sich zu überzeugen. Du
kannst weiter so tun, als ob du in einer Geschichte lebst, mit Göttern und Geistern, die über dich wachen,
sagte sie sich,
oder du kannst akzeptieren, dass du in einer ganz anderen Art von Welt lebst — dass die Götter tot oder gehässig sind, dass jemand anders deinen Vater retten muss, und dass niemand, am allerwenigsten du selbst, weiß, wie diese Geschichte ausgeht.
Chert eilte den schmalen Gang entlang, gleichermaßen wütend und ängstlich. Er und seine Arbeiter standen schon so unter Druck, dass es beinah ausgeschlossen schien, alles noch rechtzeitig für sein Unternehmen fertig zu bekommen, und jetzt war auch noch eine Nachricht von Bruder Antimon eingetroffen, dass er dringend zur Baustelle kommen solle. Ein halber Tag würde dadurch verlorengehen — wenn sie Pech hatten, noch mehr.
Er begegnete mindestens einem Dutzend Funderlingen, die von der Baustelle herunterkamen. Die meisten schoben Schubkarren mit Abraum, andere jedoch waren in Tätigkeiten unterwegs, deren Sinn und Zweck sich ihm nicht so leicht erschloss, und Chert fühlte sich schon etwas besser; immerhin passierte noch etwas. Wenigstens hatte Antimon nicht zugelassen, dass diese dringende Angelegenheit die Arbeit völlig zum Erliegen brachte. Dennoch sah er sich, während er Antimon suchte, gründlich auf der Baustelle um, ob wirklich alles so war, wie es sein sollte. Die meisten Funderlingsarbeiter bewegten sich in zwei dichten Reihen aneinander vorbei: die einen zur Baustelle hin, die anderen von dort weg. Alle, die von dort kamen, hatten Schubkarren mit Abraum, den es abzufahren galt. Von denen, die ihre Ladung bereits entsorgt hatten, nahmen viele auf dem Rückweg Säcke mit frischfabriziertem Sprengpulver mit.
Er fand Antimon im Zentrum der Aktivitäten, beim ersten und größten Stollen, der in den mächtigen, zum Meer der Tiefe hinabführenden Felsschacht münden sollte — jenes Loch, das einige Arbeiter spöttisch »Cherts Kamin« getauft hatten, das er bei sich aber immer den Schlund nannte. Das Ende der Welt. Der hochgewachsene Mönch sah mitgenommener aus, als es seinen Jahren entsprach, aber was Chert wie ein Schlag in die Magengrube traf, war die Identität der beiden Funderlinge, die bei ihm standen. Der eine war Nickel, der künftige Abt des Tempels der Metamorphosebrüder, ein humorloser Bursche, den Chert schon seit ihrer ersten Begegnung nicht leiden konnte, aber der andere ... der andere war Cherts Bruder Knoll, der Ratsherr der Blauquarzsippe
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